Kommt das Schreiben von Hand zu kurz in der Schule?

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Handschrift ist Hirnschrift: Was das Erlernen der Basisschrift und das Schreiben von Hand mit Gehirnleistung und Lernerfolg zu tun haben – und warum das gute alte Schreibheft im Unterricht noch lange nicht ausgedient hat.
Es ist ein Ergebnis, das in der Schweiz sehr unterschiedlich aufgenommen wird. «Wir wissen um die Befunde aus Deutschland», sagt Franziska Peterhans, «und wir gehen nicht davon aus, dass die Resultate in der Schweiz anders wären.» Peterhans ist Zentralsekretärin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz und hat in den vergangenen Jahren intensiv die Diskussion um die Abschaffung der Schweizer Schnürlischrift als Schulschrift erlebt, die vor allem auch eine Diskussion um den Wert des Handschreibens war.
«Schönes Schreiben hat sehr lange einen unglaublichen Stellenwert gehabt», sagt Peterhans, «doch die Schnürlischrift ist besonders schwierig zu erlernen.» Das war einer der Gründe, weshalb die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz seit dem Herbst 2014 uneingeschränkt nur noch die sogenannte Deutschschweizer Basisschrift empfiehlt. Bei dieser beginnen die Kinder erst mit Blockschrift, dann werden die einzelnen Buchstaben miteinander verbunden.
Warum mit Schönschrift abmühen, wenn jeder am PC schön schreiben kann?
Einerseits sei völlig klar, dass sich das Schreibverhalten der Kinder mit der zunehmenden Nutzung der digitalen Medien geändert habe, und auch das Tippen auf einer Tastatur zu beherrschen sei wichtig. «Andererseits ist das Schreiben von Hand und mit einem Stift eine wichtige Aufgabe, mit der die Feinmotorik trainiert werden kann.»
Die Handschrift fördert die Gehirnentwicklung
Studien haben gezeigt, dass das Handschreiben auch beim Lernen helfen kann. So behalten Kinder beispielsweise einen, Buchstaben besser in Erinnerung, wenn sie ihn mit der Hand zeichnen statt ihn auf einem Computerbildschirm eintippen. Eine Untersuchung mit US-amerikanischen Studenten hat darüber hinaus ergeben, dass nicht nur das Lesenlernen, sondern auch das Behalten von Fakten leichter fällt, wenn von Hand mitgeschrieben wird.
Experten vermuten, dass dafür die Kombination aus der Bewegung der Hand und dem entsprechenden Inhalt die Information anders im Gehirn verankert als beim Tippen. Schreiben ist deutlich anstrengender als Tippen. Lehrpersonen berichten von Schülerinnen, die einen Krampf in der Hand bekommen, wenn sie zehn Minuten lang einen Stift halten müssen.

Und vor allem die Schulen, sagt Christa Röber, müssten beim Schreibenlernen wieder mehr in die Pflicht genommen werden. Die deutsche Pädagogin und Sprachdidaktikerin beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Schreiben. «Der Unterricht diesbezüglich hat sich massiv gewandelt», sagt Röber, «in den 50er- und 60er-Jahren wurden noch ganze Schreibhefte vollgeschrieben, um den korrekten Bewegungsablauf beim Schreiben der Buchstaben und Wörter zu üben und zu automatisieren, Pfeile zeigten an, in welche Richtung der nächste Bogen gezogen werden musste.»
An den Schulen wird die Schreibbewegung heute weniger trainiert
So, wie in diesen Texten Fehler nicht korrigiert würden, kritisiert Röber, werde auch nur relativ wenig auf einen vorgegebenen Ablauf der Schreibbewegungen beim Produzieren der Buchstaben geachtet. «Diese kontrollierte Form der Einführung in einen jahrzehntelang bewährten Bewegungsablauf ist an den meisten Schulen gänzlich verloren gegangen», sagt Röber.
Das setzt sich auch in den höheren Klassen fort: Dort, wo für das Bearbeiten von Aufgaben nur Ankreuzen und Lückenausfüllen erwartet wird, bleibt die Beachtung des leserlichen Schreibens auf der Strecke.
Die derzeitige Diskussion um den Verfall der Handschrift fällt zusammen mit internationalen Untersuchungen der Rechtschreib- und Leseleistung der Primarschüler. Laut Röber mit erschreckenden Ergebnissen: Eine steigende Zahl Kinder verlässt die Primarschule, ohne richtig lesen zu können.

Die deutsche Untersuchung zur Schreibfähigkeit der Kinder möchte Sibylle Hurschler differenziert betrachtet wissen. Die Schriftdidaktikerin und Handschriftforscherin der Pädagogischen Hochschule Luzern weist darauf hin, dass es sich dabei nicht um eine empirische Studie, sondern nur um eine Umfrage unter Lehrpersonen handelt. Zudem mit geschlossenen Fragen, die Teilnehmenden mussten sich also für vorgegebene Antworten entscheiden.
Empirisch belegt hingegen sei durch Studien der Pädagogischen Hochschule Luzern, dass die Schweizer Kinder mit dem Wechsel der obligatorischen Schulschrift zur Basisschrift leserlicher und geläufiger schreiben können als zuvor. «Die Kinder entwickeln aus der unverbundenen Ausgangsschrift ihre persönliche, teilverbundene Handschrift. Somit entfällt das Lernen einer zweiten Schrift», sagt Sibylle Hurschler.
Um einen Text von Hand aufzuschreiben, muss das Gehirn ihn verarbeiten und verstehen.
Vor allem bei komplexen Zusammenhängen behalten Lernende das Wissen leichter, wenn sie es von Hand aufschreiben. «Das hat vermutlich damit zu tun, dass beim Tippen die Verarbeitung linear erfolgt, während beim Schreiben das Gehörte formatiert, sortiert und in Hierarchien eingebunden wird. Dies bedeutet, dass der Text bereits verstanden und verarbeitet wird», erklärt Hurschler. Sie plädiert dafür, dass beide Techniken – von Hand und auf der Tastatur schreiben – sinnvoll koexistieren sollten.
Und zwar so, dass sie ohne grosse Anstrengung ausgeübt werden können. Zwar gelte nach wie vor, dass Kinder leserlich schreiben lernen sollten, sagt Hurschler. «Die Geläufigkeit der Handschrift ist allerdings ebenso entscheidend, denn so wird das Arbeitsgedächtnis entlastet.» Es entstehen automatisierte Muster, welche – ohne darüber nachzudenken – abgerufen werden können, so wie beispielsweise die Hand beim Gitarrespielen die Griffe ohne Mühe findet. «Eine automatisierte Schrift ermöglicht es also, sich auf das Verfassen des Textes zu konzentrieren», sagt Hurschler. «Guter Handschriftunterricht befähigt damit die Kinder, die Schrift als Kommunikationsmittel zu nutzen.»
Wie sieht guter Handschrift-Unterricht aus?
Wie weit ist der Bogen beim kleinen G geschwungen? Ist das kleine A schmal oder bauchig gemalt? Wird der i-Punkt tatsächlich als Punkt gesetzt, oder zeichnet der Schreiber da einen Kreis?
Auch auf einer anderen Ebene spielt die Handschrift eine Rolle: Sie ist Ausdruck der Persönlichkeit, eine Art Fingerabdruck auf Papier. So, wie uns auch Mimik und Gestik unverwechselbar machen. Wer den Stift zugunsten der Tastatur gänzlich aufgibt, verliert auch eine Möglichkeit, sich auszudrücken.
Informationen und Schriftbeispiele zur Deutschschweizer Basisschrift:
www.basisschrift.ch
Schreiben üben im Alltag
- Bitten Sie Ihr Kind, den Einkaufszettel zu schreiben, den Sie ihm diktieren, während sie die Vorräte in der Küche überprüfen. Lebensmittel, die es noch nicht schreiben kann, darf es gerne auch zeichnen.
- Kaufen Sie «einfach mal so» eine Postkarte, die sie an Oma, Tante oder den besten Kumpel schreiben.
- Veranstalten Sie eine Schatzsuche in der Wohnung oder im Haus, bei der über mehrere Etappen ein Hinweiszettel zu einem Versteck führt, wo wiederum ein Hinweiszettel liegt, bis schliesslich der Schatz gefunden wird. In der nächsten Runde darf Ihr Kind die Zettel beschriften und die Hinweise verstecken.
- Lassen Sie Ihr Kind für jedes Familienmitglied einen Witz auf einen Zettel schreiben, den jeder morgens neben seinem Teller oder seiner Müeslischüssel findet. So beginnt der Tag gleich mit guter Laune.
- Erfinden Sie gemeinsam mit Ihrem Kind eine Fortsetzungsgeschichte. Jeder darf jeden Abend eine vorher festgelegte Anzahl an Sätzen dazuschreiben.
Kalligraphie und Handlettering
Weiterlesen zum Thema Handschrift und Schreiben lernen:
- Muss in Zeiten fortschreitender Digitalisierung das Schreiben von Hand im Unterricht noch geübt werden? Ruth Fritschi vom LCH findet ja – wenn die Zweckmässigkeit und nicht die Schönschrift im Vordergrund steht.
- Der Weg zum guten Schreiben ist lang und nicht immer einfach – aber er lohnt sich. Afra Sturm erklärt, warum dies so ist und was Kinder beim Schreibenlernen motiviert und fördert.