Warum Tagebuchschreiben vielen Kindern hilft - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Warum Tagebuchschreiben vielen Kindern hilft

Lesedauer: 7 Minuten

Das Weltgeschehen und alltägliche Erlebnisse lösen bei Kindern vielschichtige Reaktionen aus. Tagebuchschreiben kann helfen, negative Gefühle zu verarbeiten. Genauso wie es positive Gefühle verstärken kann. Elin, Yara und Flavia nutzen Stift und Papier für beides.

Interview: Susanna Valentin
Bilder: zVg / Maria Manco / Stocksy

Holt Elin Bättig ihr pinkfarbenes Tagebuch hervor und tippt den Geheimcode ein, um es zu öffnen, erschallt ein fröhlicher Popsong. Laut kündigt er an, was die Siebenjährige danach für sich allein im Stillen tut: Schreiben. Am liebsten zieht sie sich dafür in die gemütlichste Ecke ihres Zimmers zurück, wo ein Baldachin mit bunten Lämpchen sie kurzerhand vom Rest der Richterswiler Familienwohnung abschirmt. Die Erstklässlerin setzt sich auf die gelb bezogene Luftmatratze, vor Blicken geschützt durch ein hellblaues Regal. Seite um Seite liest sie von Ausflügen, die sie erlebt hat. «Wenn ich diese Sätze wieder lese, spüre ich das alles nochmals in mir drin. Oder es erinnert mich da­ran, dass ich etwas Schönes nochmals erleben möchte.» Entspannt lehnt sich das Mädchen zurück, die braunen Augen hüpfen von Zeile zu Zeile, sie scheint zufrieden zu sein.

Privatsphäre gewähren, Selbstwirksamkeit stärken

Andrea Horn, Psychologin an der Universität Zürich, kennt dieses Phänomen. Sie selbst kam in einem Praktikum in Mexiko City mit der Arbeit des Psychologen James W. Pennebaker in Kontakt, der in den 1980er Jahren das therapeutische Schreiben in den Fokus gestellt und mit Studien belegt hat. Ein therapeutischer Effekt, der auch das Tagebuchschreiben mit sich bringen kann und mit dem sie sich seither sowohl in der Forschung als auch in der Praxis vertieft auseinandergesetzt hat. «Das Niederschreiben von schönen Momenten bietet die Chance, diese festzuhalten und sie später nochmals aufleben zu lassen» – sowohl die Erlebnisse als auch das damit verbundene positive Gefühl. Auch Sylvia Winnewisser unterstreicht diesen Effekt. Die Wiesbadner Autorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie hat sich eingehend mit der heilenden Wirkung des Schreibens befasst: «Beim Schreiben entsteht quasi ein Foto des Erlebten. Damit kann ein Erfolgserlebnis konserviert und später wieder in Erinnerung gerufen werden.» Stift und Papier: einfache Mittel, die – halten sie auch den Weg zum Erfolgserlebnis fest – sogar die Selbstwirksamkeit beeinflussen können. 

Es darf gerne jemand im Zimmer sein. Hauptsache, niemand schaut, was ich genau schreibe

sagt die neunjährige Yara. 

Im Zimmer nebenan raschelt Elins Schwester Yara in losen Blättern auf ihrem weissen Pult. Stifte, Radiergummi und Spitzer liegen in Reichweite. Daneben auch unterschiedliche Grössen von fein gemusterten Büchern und Heften. Die Neunjährige zählt nicht nur ein Tagebuch, sondern mehrere zu ihren persönlichen Besitztümern und unterteilt diese in verschiedene Funktionen. Im Erinnerungsbuch hält sie mit gesammelten Tickets und anderen Erinnerungsstücken Erlebnisse fest, in einer kleinen Box finden Ereignisse und Gedanken, die sie als negativ empfunden hat, ihren Platz, und ins kleine Geheimbuch schreibt Yara mit einem besonderen Stift, dessen Tinte nur mit einer eigens dafür vorgesehenen Speziallampe gelesen werden kann. 

Susanna Valentin hat nach ihrem Studien­abschluss zur Heil- und Sozialpädagogin mit Kindern, Jugendlichen und geistig beeinträchtigten Menschen gearbeitet. Seit 2018 ist sie freie Journalistin.

Überhaupt ist es ihr wichtig, dass niemand einen Blick auf ihre Schriftstücke wirft. «Es darf gern jemand bei mir im Zimmer sein, wenn ich etwas aufschreibe. Das stört mich bei meiner Mutter oder meinem Vater jedenfalls nicht. Hauptsache, niemand schaut, was ich genau schreibe.» In den Augen der Psychologin Horn ist die Wahrung dieser Privatsphäre wichtig: «Eltern sollten sich dann zurückziehen und keine Fragen stellen. Das ist übrigens auch der Autonomieentwicklung des Kindes zuträglich.» Ein Moment also, in dem Schulkinder schlicht in Ruhe gelassen werden sollten. Dies im Wissen darum, dass sie mit ihrem Tagebuch einen aufmerksamen Freund, eine zuverlässige Freundin bei sich haben. Weisse Seiten, die geduldig zuhören.

Ein Logbuch, das die eigene Entwicklung dokumentiert

Eine solche Freundin hat Flavia Geiser in «Lulu» gefunden. So nannte sie ihr allererstes Tagebuch, dem sie mit sieben Jahren erste Erlebnisse anvertraute. Heute, mit elf, schmunzelt die Wettingerin hin und wieder, wenn sie die noch etwas unsichere Schrift von ihrem Erstklässlerinnen-Ich entziffert: «Das kommt mir jetzt so unwichtig vor.» Es ist schwierig, dieses Gefühl zu erklären, während sie mit den Fingern über den flauschigen Einband ihrer ersten Begleiterin in Papierform streicht. 

Nicht alle Kinder möchten schreiben

Die Begeisterung für das Schreiben teilen nicht alle Kinder. Den einen reicht es, in den Schullektionen einen Stift zu führen, die anderen schreckt eine blanke Seite ab, die mit Worten gefüllt werden müsste. Besonders Buben greifen seltener zu Stift und Buch als Mädchen. Natürlich gibt es weitere Methoden, Erlebnisse kindgerecht zu verarbeiten:

Zeichnungsbuch
Zeichnungen bilden oft die ­Erlebnisse von Kindern ab. Warum also nicht ein Skizzenbuch zulegen? Darin kann mit bunten Stiften gezeichnet werden, was auf der Seele brennt.

Sorgenpüppchen
Die zierlichen, handgefertigten Puppen aus Guatemala und Mexiko sehen mit den feinen, in bunten Mustern geknüpften Fäden nicht nur hübsch aus und passen in jede Kinderhand, sie sind auch dafür da, Stimmungen aufzufangen. Werden sie aus dem Stoffsack geholt, kann jedem der sechs bis acht Püppchen eine Sorge anvertraut werden. Über Nacht kümmern sie sich unter dem Kissen darum, dass die Sorgen am Morgen nicht mehr ganz so schwerwiegend erscheinen.

Ferientagebuch
Ist der Schritt zum Tagebuchschreiben gross, kann ein Ferientagebuch den Einstieg erleichtern. Mit dem Festhalten von Erlebnissen finden Kinder einen Zugang dazu, ihre Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen. Das hält positive Erinnerungen länger wach und ebnet den Weg zu Stift und Buch im Alltag.

Auch Mütter und Väter müssen verarbeiten
Die Welt hält im Moment einiges bereit, worüber sich Mütter und Väter im Hinblick auf die Zukunft der eigenen Kinder Sorgen machen. Daneben sind da noch die ganz persönlichen Fragen zum Familien- und Paarleben. Für die Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Alltag bleibt oft wenig Zeit. Ein Kugelschreiber und ein Buch mit leeren Seiten ist schnell besorgt und kann bei Erwachsenen ebenso wie bei Kindern helfen, die eigenen Gedanken zu sortieren. Warum also nicht auch als Mutter oder Vater Tagebuch schreiben?

Horn erklärt diesen Aussenblick auf sich selbst mit der Entwicklung, die Kinder gerade in diesen Jahren durchmachen: «Ansichten verändern sich in dieser Zeit stark, und damit auch die Gewichtung, was als wichtig empfunden wird.» Flavia schliesst die Zimmertüre vorsichtig, bevor sie ihr aktuelles Tagebuch hervorholt.  Es ist ein «Happy Self Journal», das sie von ihrer Gotte geschenkt bekommen hat. «Mir macht das Schreiben jetzt viel mehr Spass als früher, wahrscheinlich, weil es mir leichter fällt.» Sie bemüht sich dabei um Regelmässigkeit. Ihr Buch hält für jeden Tag des Jahres eine Seite frei, ausserdem können drei positive Ereignisse aufgelistet werden. «Die lasse ich meistens aus. Wenn ich in der Schule bereits viel geschrieben habe, fehlt zu Hause manchmal die Lust dazu.» Viel eher erzähle sie den leeren Seiten vom Wochenende, dann seien auch die Erlebnisse vielfältiger.

Aus dem Gedankenkarussell aussteigen

Die zwei Jahre jüngere Yara bestätigt diese Empfindung: «An Wochen­enden und in den Ferien habe ich meistens mehr Lust zu schreiben, da erlebt man auch mehr.» Auch ihr fehlt nach Schule und Hausaufgaben ab und zu die Motivation, in ihrem Kinderzimmer den Stift in die Hand zu nehmen. «Es braucht auch Zeit, sich nochmals mit den eigenen Gefühlen zu konfrontieren, die mit Erlebnissen verbunden sind», nimmt Psychologin Horn den Faden auf. Selbstreflexion koste Energie. «Wichtig ist, als Eltern in diesem Zusammenhang nie Druck auszuüben. Schreiben ist nur dann sinnvoll, wenn es sich ganz nach dem individuellen Bedürfnis richtet.»

Schreiben bietet Sicherheit, ohne dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllen zu müssen: Blankes Papier reagiert mit Wohlwollen.

Dadurch, dass Flavias Tagesablauf als Fünftklässlerin durch Schule und Hausaufgaben strukturiert ist, setzt sie sich meist abends mit ihrem Tagebuch ans Pult: «Je nachdem, was ich aufgeschrieben habe, kreisen meine Gedanken noch weiter, lege ich mich danach ins Bett.» Für Psychologin Horn eine logische Konsequenz; sie plädiert dafür, zwischen dem Schreiben und einer Folgehandlung etwas Zeit einzuplanen. «Das Schreiben selbst löst Gefühle aus. Wird zum Beispiel etwas Trauriges beschrieben, kann die Stimmung danach bedrückt sein.» Eltern sollten sich deshalb zwar zurückziehen, schlage das Kind das Tagebuch auf, allerdings sei es ratsam, in Bereitschaft zu bleiben, um die Stimmung des Kindes danach auffangen zu können: «Wichtig ist es, dem Kind zu signalisieren, dass es mit seinen Bedürfnissen ernst genommen wird.» Gerade bei schwierigen Emotionen könne dies auch der Wunsch nach Ruhe sein.

Alleinsein oder in Gesellschaft: Elin mag beides, je nach Stimmung. «Immer, wenn ich über Schönes schreibe, stören mich die Geräusche rundherum nicht, dann muss die Zimmertüre auch nicht geschlossen sein.» Es gibt aber auch Momente, in denen sie diese geräuschvoll hinter sich zuwirft. Dann nämlich, wenn sie ihrem Ärger auf noch leeren Tagebuchseiten Luft machen will. Ein Prozess, der genauso heilsam sein kann, wie wenn positive Gefühle schreibend noch einmal durchlebt werden; selbst bei Verlusten oder Niederlagen.

«Das Geschehene, das beschrieben wird, wird noch einmal konkret benannt. Dabei kann die oder der Schreibende Abstand gewinnen», erklärt Sylvia Winnewisser. Worte zu finden für Erlebtes und damit letztlich auch für die Gefühle, die dabei empfunden wurden, sei ein wichtiger Schritt im Umgang mit Emotionen, ist auch Andrea Horn überzeugt. «Das Sortieren diffuser Gefühle kann eine Türe zu einer neuen Ordnung öffnen und damit einen Verarbeitungsprozess in Gang setzen.»

Ein Vorgang, der Gestaltungsmöglichkeiten schafft: Dadurch, dass die Auseinandersetzung zwar belastend sein kann, könnten Emotionen dafür besser eingeordnet oder gar abgelegt werden. Nicht nur das: Auch Gespräche über bedrückende Erfahrungen seien danach einfacher möglich, so Horn. «Durch die Worte, die Kinder für die eigene Geschichte finden, wird diese besser teilbar und nahestehenden Personen dadurch auch eher anvertraut.»

Wie Schreiben helfen kann, sich anderen zu öffnen

Sich einem Tagebuch oder einer anderen Person anvertrauen und die Sorgen sind vergessen, ganz nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid? So einfach sei dies leider nicht, sagt Horn: «Jemandem die eigenen Gedanken mitzuteilen, birgt auch immer die Gefahr, missverstanden zu werden.» In der Folge fühle sich der- oder diejenige, die es gewagt habe, sich mitzuteilen, blossgestellt und klein. Gelinge es allerdings, die eigenen Gedanken und Gefühle so mit anderen zu teilen, dass man sich verstanden fühle, berge das soziale Teilen einen grossen Vorteil: «Gemeinsames Aushalten ist immer besser, als etwas allein durchzumachen, und Freudiges zu teilen vergrössert die Freude», fasst die Psychologin zusammen. Passiert beim Schreiben ein inneres Ordnen, zapft das Sprechen darüber zusätzlich soziale Ressourcen an. «Etwas von sich preiszugeben, öffnet die Tür zum Gegenüber. So werden nicht nur eigene Emotionen und Themen verarbeitet, sondern gleichzeitig Beziehungen gestärkt» – unter der Voraussetzung, dass der oder die andere darauf eingehen kann.

Das Schreiben bietet demnach eine Sicherheit, ohne dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllen zu müssen: Blankes Papier reagiert mit Wohlwollen. Doch wann reicht die Selbstreflexion nicht mehr aus? «Natürlich gibt es Grenzen, bei denen der therapeutische Effekt des Schreibens allein nicht genügt», sagt Heilpraktikerin Winnewisser. Diese Grenze sei dann erreicht, wenn das Schreiben keine Erleichterung mehr schaffe, sondern im Gegenteil Gefühle aufkämen, die das Kind ängstigten und die es über eine längere Zeitspanne nicht überwinden könne.

Buchtipp

Sylvia Winnewisser: Einfach die Seele frei schreiben. Humboldt 2010, 152 Seiten, ca. 19 Fr.

Laut Horn ein Zustand, der sich in der Regel auch in anderen Lebensbereichen abzeichnet: «Oft kann das Kind dann zum Beispiel nicht mehr gut schlafen oder ist in der Schule unkonzentriert. Dann braucht ein Kind therapeutische Unterstützung.» Alarmsignale, die mehr als die Seiten eines Tagebuches erfordern. Bei Elin scheint es zumindest im Moment keinen Anlass zur Sorge zu geben. Sie sitzt noch immer mit ausgestreckten Beinen unter dem schützenden Baldachin, ihr pinkes Tagebuch geöffnet auf dem leicht angewinkelten Knie. Die Sonne zeichnet ein warmes Bild auf den Parkettboden – heute bleibt die Zimmertüre offen.