Frau Schuler, warum haben es Tagesschulen in der Schweiz so schwer? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Frau Schuler, warum haben es Tagesschulen in der Schweiz so schwer?

Lesedauer: 4 Minuten

Patricia Schuler Braunschweig kennt den Spagat, den berufstätige Mütter täglich hinlegen. Die Sozialforscherin fordert mehr Tagesschulen und weiss, warum es Ganztageseinrichtungen hierzulande so schwer haben. 

Frau Schuler Braunschweig, in vielen europäischen Ländern werden die Schüler ganz selbstverständlich auch ausserhalb der Lernzeiten in der Schule betreut.

Das ist die Regel. Die Ausnahme bilden lediglich die deutschsprachigen Länder, wobei die Schweiz besonders hervorsticht. Und zwar im negativen Sinn.

Warum haben es Tagesschulen hierzulande so schwer?

Dafür gibt es viele Gründe: In der Schweiz herrscht ein konservativtraditionelles Klima, gesellschaftliche Änderungen brauchen erfahrungsgemäss viel Zeit. Gerade wenn es um Bereiche geht, die die Familien tangieren, reagieren viele Menschen ablehnend: Schule ist gut und schön, aber sie soll vor allem Wissen vermitteln.Das Kind gehört den Eltern und nicht dem Staat.

Haben wir ein Problem mit dem Loslassen?

Es ist mehr als das. Viele Schweizerinnen und Schweizer gehen bewusst oder unbewusst davon aus, zu viel Zeit ausser Haus schade. Warum sollte ein Kind in eine Tagesschule geschickt werden, wenn es auch anders geht? Mit anders meine ich, dass vor allem die Mütter zurückstehen, dass Grosseltern einspringen und alles darauf ausgerichtet wird, dass der Nachwuchs ausserhalb des Unterrichts daheim sein kann.

«Viele Schweizer glauben, zu viel Zeit ausser Haus schade dem Kind»

Das tönt so, als wäre ein Unterrichtskonzept, das eine Betreuung über die Lektionen hinaus vorsieht, schädlich.

Obwohl dieses Vorurteil aus der Sicht der Forschung schon lange widerlegt ist, hält es sich hartnäckig in den Köpfen. Tatsache ist, dass Tagesschülerinnen und -schüler bessere Lernbedingungen vorfinden als ihre Gspänli, die in «normale» Quartierschulen gehen. In Tagesschulen ist das Lernen vielfältiger und nicht nur auf die normale Unterrichtszeit beschränkt. Als Sozialforscherin vermute ich, dass sich das positiv auf die Sozialkompetenzen der Kinder auswirken kann.

Warum gibt es dann in der Schweiz nur wenige vollwertige Tagesschulen?

Ich bin überzeugt, dass sich das bald ändern wird. Der Bedarf an Ganztagesplätzen für Primarschulkinder ist riesig. Wenn irgendwo eine neue Einrichtung aufmacht, stehen die Leute Schlange. In der Stadt Zürich gibt es beispielsweise fünf öffentliche Einrichtungen, in denen die Schüler von morgens bis abends betreut werden. Alle führen ellenlange Wartelisten. Die Mädchen und Buben, die auf teure Privatschulen gehen, werden übrigens automatisch nach so einem Konzept betreut. Zwischenzeitlich gibt es in vielen Quartieren und Gemeinden Tagesstrukturen. Heisst: Die Eltern können ihre Kinder nach Bedarf an den Mittagstisch oder in die Hausaufgabenbetreuung schicken.

Ist das nicht eine positive Entwicklung?

Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Mich überzeugt dieses Baukastenprinzip aber nicht vollständig. Wenn jeder Schüler einen individuellen Stundenplan für die unterrichtsfreie Zeit hat, wird es unübersichtlich. Ausserdem kann ausserhalb des Klassenzimmers kein Wirgefühl entstehen. Das wäre aber auch für das soziale Lernen wichtig.

Warum werden dann nicht mehr Tagesschulen eröffnet?

Interessanterweise geben viele Gemeinden an, bei ihnen bestehe kein Bedarf für diese Schulform. Warum? Weil sich die Eltern, allen voran die Mütter, anpassen. Sie arbeiten maximal ein, zwei Tage in ihrem alten Job oder legen ihre Karrieren komplett auf Eis. Das ist nicht gerade wirtschaftsfreundlich. Die meisten Frauen hierzulande sind gut ausgebildet und arbeiten gerne in ihrem Job, bevor sie Mütter werden. Warum soll alles anders werden, nur damit mittags das Essen auf dem Tisch steht? Warum schaffen wir nicht bessere Bedingungen, damit diese Frauen Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren können?
Patricia Schuler Braunschweig. Bild: zVg
Patricia Schuler Braunschweig. Bild: zVg

Sie haben selbst zwei Schulkinder. Wie arrangieren Sie sich?

Wie viele andere berufstätige Mütter auch. Wir haben ein fragiles Betreuungssystem aus Grosseltern, Hort und Nachbarschaftshilfe aufgebaut. Wenn ich an der Reihe bin, hetze ich kurz vor Mittag heim und koche etwas, was schnell geht. Spaghetti mit Sauce oder so. Für die gesunden Sachen, den Salat und den Früchteteller, bleibt oft keine Zeit. Die beiden kommen, essen, und ehe ich mich versehe, sind sie wieder weg. Macht es mich zur schlechten Mutter, wenn ich finde, dass es bessere Lösungen gibt?

Könnte man nicht bestehende Primarschulen in Tagesschulen umwandeln?

So einfach ist das nicht. Die wenigsten Schulgebäude sind darauf ausgerichtet. Es reicht nicht, nur Klassenräume zu haben. Man braucht eine professionell eingerichtete Küche, einen Speiseraum, Aufenthaltsräume. Fast am wichtigsten sind Rückzugsorte, damit die Kinder auch mal eine Auszeit vom hektischen Schulalltag nehmen können.

«Eine Tagesschule bietet Rückzugsorte, die Kinder so sehr brauchen»

Wie sieht es bezüglich Personal aus?

Man bräuchte nicht nur mehr Lehrpersonen, sondern auch einen anderen Typus. Es geht neben der Wissensvermittlung mehr denn je um pädagogische Inhalte. Neu wäre auch, dass die Lehrpersonen mit den Betreuern Hand in Hand arbeiten müssten. Das setzt einen Gesinnungswandel voraus, der sich kaum von oben verordnen lässt.

Sie lehren an der Pädagogischen Hochschule in Zürich und gestalten die Ausbildung neuer Lehrpersonen mit. Ist der Nachwuchs bereit für den eben angesprochenen Wandel?

Ich wünschte, ich könnte diese Frage mit Ja beantworten. Ich stelle aber immer wieder fest, dass die Studenten erstaunlich traditionell denken. Die können es sich oft kaum vorstellen, mit ihren Schülern gemeinsam das Mittagessen einzunehmen. Oder sich mit den anderen Betreuern auf Personal, die Infrastruktur müsste angepasst werden und so weiter. Das Ganze würde sich aber schnell aus volkswirtschaftlicher Sicht auszahlen. Davon bin ich überzeugt.

Sie forschen intensiv zum Thema. Welche Ziele sollte sich die Schweiz in den nächsten Jahren stecken?

Wir brauchen ein nationales Kompetenzzentrum, an das sich die Gemeinden, Städte und Kantone wenden können, wenn es darum geht, hochwertige Tagesschulen aufzubauen. Und wir brauchen Qualitätsstandards. Vermutlich müssen wir auch die Berufsbilder Pädagogin/Pädagoge beziehungsweise Betreuerin/Betreuer neu definieren. Und wir müssen sachlicher über die Rolle der Mutter und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf reden. Tagesschulen sind nicht per se bessere Schulen, nur weil sie Tagesschulen sind. Aber sie sind eine mögliche Antwort auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die gerade stattfindet. Deswegen glaube ich, dass der Ausbau des Tagesschulnetzes keine Revolution ist, sondern vielmehr ein Ausdruck von Evolution.

Zur Person


Patricia Schuler Braunschweig ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Sie forscht unter anderem im Rahmen einer gerade laufenden Nationalfondsstudie zum Thema Tagesschule. Patricia Schuler Braunschweig ist verheiratet, hat zwei Kinder im schulpflichtigen Alter und lebt in Zürich.

Weiterlesen: