Frau Schmugge, wissen Menschen mit Demenz noch, wer sie sind? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Schmugge, wissen Menschen mit Demenz noch, wer sie sind?

Lesedauer: 7 Minuten

Erkrankt der Grossvater oder die Grossmutter an Demenz, bedeutet das für die Angehörigen eine grosse Veränderung. Wie entscheidend der Umgang des Umfeldes mit der Krankheit ist, auf welche Weise die Beziehung zum «Grosi» oder «Grosspapi» weiterhin gepflegt werden kann, und warum Menschen mit Demenz nicht gerne alleine sind, erklärt die Gerontopsychologin Barbara Schmugge.

Wir treffen Barbara Schmugge in einem Unterrichtszimmer im Toni-Areal in Zürich, wo sich das Departement Angewandte Psychologie der ZHAW befindet. Die Wände sind grau und kahl; grosse Fenster geben den Blick frei in den grün bepflanzten Innenhof. Die Psychologin wirkt konzentriert und lebhaft. Lachend hält sie das Papiertüchlein in den Händen, das sie von der Fotografin erhalten hat, um damit Glanzstellen im Gesicht abzuwischen. Zum Einsatz kommt das Tüchlein allerdings nicht.

Frau Schmugge, beginnen wir mit einem Beispiel: Eine alte Frau mit Demenz sitzt vor einem Blumentopf und spricht französisch mit ihm. In jungen Jahren war die Frau als Au-pair im Welschland tätig, seitdem hat sie jedoch kaum mehr französisch gesprochen. Was heisst das für ein Kind, wenn es seine Grossmutter so erlebt?

Vielleicht bedeutet es eine Befremdung, vor allem dann, wenn es die Grossmutter zum ersten Mal so sieht. Gleichzeitig ist dieses Verhalten der Grossmutter ein Rätsel – wie so vieles andere im Leben eines Kindes auch. Es kommt dann vor allem sehr darauf an, wie die Eltern reagieren und mit der Situation umgehen. Eltern sind Vorbilder. Wie sie ihre Beziehungen leben und gestalten, prägt das Kind. Sie können dem Kind erklären, dass das «Grosi» französisch spreche, weil es sich dadurch an eine Welt zurückerinnere, in der es früher einmal war. Das hat dann eine ganz andere Wirkung auf das Kind, als wenn die Eltern ausweichen und die Fragen des Kindes abwehren. Schwierig werden könnte es allerdings dann, wenn die Grossmutter sehr plötzlich ein solch befremdendes Verhalten zeigt.

Kommt es im Verlauf einer Demenzerkrankung oft zu solch plötzlichen Veränderungen?

Das hängt von der Art der Demenz ab. Bei der Alzheimer-Erkrankung, der häufigsten Demenzform, ist der Verlauf meist so: Zuerst schleichend, anschliessend zeigt sich plötzlich eine ausgeprägte Symptomatik. In dieser Phase können die Veränderungen tatsächlich drastisch sein. Im dritten Stadium verläuft die kognitive Veränderung wieder weniger extrem.

«Wie Eltern ihre Beziehungen – auch zu einer dementen Grossmutter – leben, prägt die Kinder.»

Haben Sie in der Beratung von Angehörigen schon erlebt, dass sich etwa ein Enkel mit dem demenzkranken Grossvater nicht mehr wohlfühlte?

Ja, das kommt vor. Und dann liegt es sicher auch in der Verantwortung der Eltern, zu schauen, ob der Grossvater das Kind noch hüten kann. Ich gehe aber vielmehr davon aus, dass Kinder diese Veränderungen im Verhalten des Grossvaters oder der Grossmutter gar nicht so sehr stören. Wir Erwachsenen sind es, die Angst haben vor dieser Krankheit.

Nochmals zurück zur Erinnerung: Wird der Zugang zu Menschen mit Demenz über die Erinnerung erleichtert?

Ja, und die Möglichkeit, über Erinnerungen zu sprechen, wird auch in der Alzheimer-Aktivierungstherapie genutzt. Meine praktische Erfahrung zeigt, dass bei nichttraumatisierten Menschen, wenn sie dement werden, eher die positiven Erinnerungen hochkommen, bei Menschen mit Trauma-Erfahrungen (z. B. Kriegstraumata) können dann diese Ereignisse dominieren. Das ist dann sehr belastend, weil es schwierig ist, da therapeutisch zu wirken. Erinnerungen haben in der Regel eine emotionale Bewandtnis. Es kommen die Inhalte hoch, die mit starken Gefühlen verbunden sind.
Die Psychologin Barbara Schmugge an ihrem Arbeitsort im Zürcher Toni-Areal.
Die Psychologin Barbara Schmugge an ihrem Arbeitsort im Zürcher Toni-Areal.

Kann es also sinnvoll sein, mit dem demenzkranken Grossvater über seine Erinnerungen zu sprechen?

Ja, die Haltung dazu sollte aber eine positive sein. Mutter oder Vater sollten nicht sagen: Ach, der «Grosspapi» vergisst sowieso alles, was will man da in den alten Erinnerungen kramen. Wenn eine Offenheit da ist, ein echtes Interesse für die Vergangenheit des Vaters und Grossvaters, dann kann das sicher eine Bereicherung für die Beziehung zwischen den Generationen sein. Kinder hören oft sehr gerne Geschichten von früher. Da bei der Demenz eben kaum Neues mehr aufgenommen oder gespeichert werden kann, geht man davon aus, dass dadurch mehr Kapazität für Erinnerungen frei wird.

Bei Menschen mit Demenz verändern sich die kognitiven Fähigkeiten zunehmend. Das Gedächtnis funktioniert nicht mehr richtig, Denkvermögen und Sprache sind betroffen. Wie steht es um die Emotionalität der Betroffenen?

Emotionalität und Sinnlichkeit bleiben bestehen. Die Emotionen verändern sich aber dahingehend, dass sie oft unkontrolliert geäussert werden, weil eben die kognitive Kontrolle nicht mehr funktioniert. Dadurch können die Gefühle und das Sinnliche mehr in den Vordergrund treten. Demenzkranke mögen auch gerne Düfte, Farben, Musik. Viele Menschen mit Demenz leben zudem sehr im Moment – wie Kinder. Diese Momentbegabung kann eine Ressource in der Beziehung zu den Angehörigen, insbesondere den Enkeln, sein. Grossmutter und Enkelkind geniessen zusammen den Moment, die Natur usw. Wobei die Verantwortung für das Enkelkind von der dementen Grossmutter wahrscheinlich eben nicht mehr wahrgenommen werden kann.

«Es werden jene Inhalte in Erinnerung gerufen, die mit starken Gefühlen verbunden sind.»

Für Angehörige ist es oft eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, sich um das demenzkranke Familienmitglied zu kümmern.

Das ist absolut so. Und es nehmen leider nach wie vor zu wenige Angehörige von Demenzkranken Unterstützung für sich in Anspruch. In meiner Beratung merke ich immer wieder, dass für die Angehörigen der Umgang mit der Demenz vor allem eine wichtige Arbeit an sich selbst bedeutet. Denn man kann dem von einer Demenz betroffenen Grossvater nicht mehr raten, was er tun soll. Aber die Angehörigen haben die Möglichkeit, sich Wissen über die Krankheit und vor allem über den Umgang damit anzueignen.

Wann kommen Angehörige an ihre Grenzen?

Oft dann, wenn einen der eigene Vater, die eigene Mutter nicht mehr erkennt. Oder auch, wenn die Pflege zu aufwendig wird. Viele Mütter und Väter, die einen demenzkranken Elternteil haben, befinden sich sowieso in einer anspruchsvollen und stressreichen Lebensphase. Sie müssen Beruf, Kindererziehung und eben auch noch die Pflege des demenzkranken Elternteils vereinbaren. Ihnen steht das Wasser oft bis zum Hals. Dann ist es für sie umso wichtiger, sich Unterstützung und Beratung für den Umgang mit dem demenzkranken Angehörigen zu holen.

Was bringt eine solche Beratung?

Vieles lässt sich durch eine kompetente Beratung verändern. Angehörige leiden nicht selten unter Schuldgefühlen, gerade weil sie überfordert sind – und da ist es sehr wichtig, darüber zu sprechen, diesen Frust und die Aggressionen nicht in sich hineinzufressen oder gar am dementen Vater, der dementen Mutter auszulassen.
Barbara Schmugge ist erfahren mit Demenzkranken und Angehörigen.
Barbara Schmugge ist erfahren mit Demenzkranken und Angehörigen.

Was hält Angehörige denn nach wie vor davon ab, sich diese Hilfe zu holen?

Es ist oft die Angst, der Demenzkranke würde sich ausserhalb der Wohnung, etwa in einem Heim, nicht wohlfühlen. Dabei hat man herausgefunden, dass es Menschen mit Demenz viel besser geht, wenn sie nicht alleine sind. In Hamburg wurde vor ein paar Jahren ein Heim umgebaut, und alle Bewohner mussten vorübergehend zusammen in einem grossen Raum schlafen. Mit dem Ergebnis, dass sich die Bewohner viel wohler fühlten als in ihren Einzelzimmern. Sie brauchten viel weniger Schlafmittel, weil sie weniger Angst hatten. Es waren ja schliesslich noch andere im Zimmer, die man hören, sehen und riechen konnte! Dieser Umstand hatte eine sehr beruhigende Wirkung auf die Bewohner. Es kann wirklich besser für alle sein, einen von Demenz betroffenen alten Menschen in ein spezialisiertes Heim zu geben und ihn sehr oft zu besuchen, als sich damit zu überfordern, ihn weiterhin zu Hause zu betreuen.

In Ratgebern heisst es, man solle mit Demenzkranken nicht streiten.

Ja, denn das Streiten ist ein Akt zwischen zwei Menschen, die sich ungefähr auf derselben kognitiven Ebene befinden. Wenn der Demente mit einem nicht dementen Menschen streitet, verliert er immer. Das äussert sich so, dass der Demenzkranke entweder gar nichts mehr sagt oder immer dasselbe. Manche fangen an herumzuschreien oder Stereotypien zu zeigen.

Können Sie uns dazu ein Beispiel nennen?

Als junge Psychologin – es war meine erste Stelle in einer Klinik – wollte ich eine Frau mit Demenz auf der Station abholen, um sie zu testen. Ich bat sie, mit mir mitzukommen. Doch die Frau weigerte sich und entgegnete immer wieder: Nein, lassen Sie mich, ich muss jetzt kochen! Ich redete auf die Frau ein. Vergebens. Der Stationspfleger, der sich das alles angeschaut hatte, intervenierte, indem er zur Patientin sagte: Ja, das ist gut mit dem Kochen. Ich übernehme das heute für Sie. Sie können mit Frau Schmugge mitgehen. Und die Frau folgte mir völlig beruhigt.

Ist das nicht Manipulation? Schliesslich hat dieser Pfleger die Frau ja hereingelegt …

Nein – man nennt dies Validieren. Man versucht zu verstehen, was emotional in der dementen Person vorgeht. Und oft ist sie eben in einem Schema drin, aus dem sie nicht mehr selber herauskommt. Sie reitet sich dann richtiggehend hinein. Es geht darum, das Emotionale des Betroffenen zu erfassen und auszuhalten, kognitiv übernimmt man aber die Führung; gerade weil das die demente Person nicht mehr kann. Die Emotionalität sollte immer ernst genommen werden, auch, weil der Zugang über das Kognitive, das zunehmend schwindet, nicht mehr funktioniert.

«Angehörige sollten nicht Halt davor machen, sich Hilfe zu suchen.»

Wissen Menschen mit Demenz noch, wer sie sind?

Die Identität einer dementen Person verändert sich massiv. Der an Alzheimerdemenz Erkrankte verliert sehr schnell die Einsicht in sich selbst. Geschätzte 70 Prozent merken bereits im Anfangsstadium nicht, dass sie dement sind. Und später merkt es niemand mehr. Ich kann mich nur wiederholen: Die Krankheit bedeutet wirklich eine sehr grosse Herausforderung für die Angehörigen. Ich behaupte aber auch: Wenn das Umfeld gut mit dieser Veränderung umgehen kann, nimmt das die Schwere der Krankheit. Deshalb erachte ich es als sehr wichtig, dass sich Angehörige beraten lassen und dafür sorgen, selber ausgeglichen zu bleiben, sie sich also um die eigene Entspannung kümmern, auch Hobbys pflegen und sich entlasten lassen.

Wann wenden sich Angehörige an den Hausarzt, um den Verdacht auf eine Demenz abklären zu lassen?

Das ist unterschiedlich. Durchschnittlich dauert es etwa drei Jahre, nachdem erste Anzeichen von den Angehörigen festgestellt worden waren, bis eine Abklärung stattfindet. Oft sind es drastische Veränderungen, die dazu führen, sich ärztliche Hilfe zu holen. Die Grossmutter kann zum Beispiel plötzlich ihren Alltag nicht mehr gestalten. Sie beschäftigt sich nicht mehr mit sich selbst, das Interesse für die Mitmenschen lässt nach. Oder sie kocht sich jeden Abend dasselbe Essen, während sie sich früher sehr abwechslungsreich ernährte. Wichtig ist auf jeden Fall immer, dass man eine wirklich gründliche Abklärung macht.

Welches sind die wichtigsten Anzeichen einer Demenz?

Wenn das Gedächtnis und die Orientierung sehr nachgelassen haben. Wenn jemand zum Beispiel den Weg vom Supermarkt nach Hause nicht mehr findet. Auch zunehmende sprachliche Ausfälle wie ausgeprägte Wortfindungsstörungen können Anzeichen einer Demenz sein. Oder jemand wird sehr ratlos. Er weiss zum Beispiel nicht mehr, wozu bestimmte Gegenstände, die er früher nutzte, zu gebrauchen sind.

Sie erwähnten, dass Demenzkranke ab einem gewissen Stadium im Krankheitsverlauf gar nicht wüssten, dass sie krank sind.

Ja, weil die (Selbst-)Reflexion nicht mehr stattfinden kann. Wie wir uns selber sehen, ist vor allem auch eine kognitive Leistung. Mit der Demenzerkrankung geht dieses Bild vom eigenen Selbst wie verloren. Ich beobachte jedoch immer wieder, wie zufrieden Menschen mit Demenz sein können. Und zwar dann, wenn die Angehörigen gut mit der Krankheit umgehen. Demenzkranke reagieren sehr sensibel auf Stimmungen und Schwingungen. Sie merken, wenn wir nicht echt sind und ihnen etwas vorspielen. Das kann man sehr gut beobachten. Es braucht von den Angehörigen also viel Reife und Reflexionsfähigkeit.

Was fasziniert Sie an der Arbeit mit dementen Menschen?

Das Unverstellte! Und ich glaube auch, den Draht zu ihnen zu haben. Ich konnte die Entwicklung dieses ganzen Fachgebietes mitmachen. Es fehlt mir richtig, wenn ich in meiner Praxis gerade keine Menschen berate, die irgendwie mit dem Thema Demenz in Berührung sind.

Immer mehr ältere Menschen erkranken an Demenz. Sie werden pflegebedürftig, was häufig zu einer Mehrbelastung betroffener Familien führt. Doch was genau ist Demenz eigentlich und was bewirkt sie? explainity versucht sich an einer Erklärung der Krankheit und der Möglichkeiten im Umgang mit betroffenen Menschen.

Zur Person:

Dr. phil. Barbara Schmugge ist Professorin und Studienleiterin an der ZHAW – Departement Angewandte Psychologie und Gerontopsychologin. In ihrer privaten Praxis berät sie unter anderem Angehörige von an Demenz Erkrankten oder auch Pflegeteams.