Wie wird mein Kind selbstbewusst?  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wie wird mein Kind selbstbewusst? 

Lesedauer: 6 Minuten

Kinder brauchen kein übertriebenes Lob, um sich ihrer selbst sicher zu werden, sondern die authentische Reaktion ihrer Eltern.

Text: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Familylab

Das Selbstbewusstsein – sich seiner selbst bewusst sein – ist so etwas wie eine Funktion des Selbstwertgefühls. Kinder und Jugendliche zum Beispiel haben heute mehr Selbstbewusstsein: Sie sind sich ihrer Existenz gewahr. Aber das heisst noch lange nicht, dass sie auch ein gutes Selbstwertgefühl haben. Diese jungen Menschen wissen ­heute, dass sie einen Wert haben – einfach weil sie menschliche Wesen sind. Und es macht mich sehr glücklich, zu sehen, wie sie mit erhobenem Kopf auf der Strasse herumlaufen, während meine Generation mit gesenktem Kopf schüchtern entlang den Mauern ging. Früher hat man jungen Menschen eingebläut, dass sie nur eine Existenzberechtigung haben, wenn sie brav sind. Und dass sie wie alle Kinder auf dieser Welt vieles anstellten, was nicht als «brav» gelten konnte, war klar, sodass sie sich ständig schuldig fühlten und den Blick verschämt auf den Boden richteten.

So werden zum Beispiel Jugendliche, die einen Amoklauf begangen haben, meist als unauffällig, angepasst, nett, anständig beschrieben. Und natürlich: Sie kommen aus guten Familien, die ein gutes Verhältnis zu allen Nachbarn haben. Typisch für «gute Familien» – vor allem für die amerikanischen – ist, dass sie die ganze Zeit Loblieder auf ihre Kinder anstimmen. Und was diese Kinder dann entwickeln, ist kein gesundes Selbstwertgefühl, ­sondern sind angeheizte, aufgeblasene Egos. Da braucht nur eine Kleinigkeit vorzufallen, und schon lösen sich diese Egos in nichts auf. Eine kleine Enttäuschung, dass die Noten nicht gut genug sind, dass er nicht ausgewählt wurde fürs nächste Fussballspiel und so weiter, das reicht diesem jungen Menschen, um in Wut auszubrechen.

Kinder, auf die ständig ­Loblieder gesungen werden, entwickeln kein gesundes Selbstwertgefühl, sondern aufgeblasene Egos.  

Diese Kinder wurden dauernd gelobt und mit grossen Worten betört: «Du bist wunderbar! Ganz erstaunlich, was du da machst! Wie fantastisch du bist!» Aber sie haben keine Wärme und authentische Nähe erfahren. Mit anderen Worten: Diese Kinder sind von ihren Eltern konsequent betrogen worden.

Persönliche Reaktion statt leeres Lob

Mich persönlich macht es immer sehr traurig, wenn mir jemand ein positives Label verpasst: Ich fange an, innerlich zu weinen, weil das ein Label ist, das mich schmerzhaft ­daran erinnert, wie sehr ich mich nicht wahrgenommen gefühlt habe. Es war der Fehler meiner eigenen Therapeuten, dass sie meinten, ich müsse lernen, Lob zu akzeptieren. Aber nicht das war der Punkt, sondern der, dass ein solches Label völlig ohne Inhalt daherkommt und dich nichts als einsam macht. Wenn mir jemand sagt: «Du bist toll!», dann sagt er damit gar nichts aus. Es hat keinen Wert. Es ist nicht leicht, sich das stets zu vergegenwärtigen, dass man dabei im Grunde nichts gesagt hat. 

Wenn ich dies zum Beispiel Lehrern oder Eltern beibringen möchte, dann mache ich immer folgenden Vergleich: Stell dir vor, dass dein bester Freund Künstler ist. Du hast ihn sehr lange nicht mehr gesehen, und nun lädt er dich auf eine Vernissage ein, wo er seine neuesten Bilder präsentiert. Und nun gehst du da hin, und er fragt dich, wie du ­seine Bilder findest. Es ist doch ganz klar, dass er weder übertriebenes Lob noch eine niederschmetternde Kritik hören möchte, sondern er möchte als dein alter Freund wissen, was dir seine Bilder sagen, was sie in dir auslösen. Er will eine persönliche Reaktion, selbst wenn die dann vielleicht ganz knapp lautet: «Entschuldige, deine Bilder sagen mir gar nichts!» Diese Antwort ist aber für ihn okay. Der Satz «Ganz toll, was du da machst!» wäre es hingegen nicht. Und wenn du genügend persönliche Reaktionen erhältst, kannst du dann auch irgendwann selber entscheiden, ob du gut bist oder nicht.

So auch, wenn ich einen Vortrag halte. Wenn mir einer sagt: «Du bist ein brillanter Redner!», gibt mir das gar nichts. Wenn aber jemand wiederkommt und mir sagt, dass dieser und jener Satz von mir etwas in seinem Leben verändert hat, dann weiss ich, ob ich ein «guter oder schlechter Lehrer» war. Das ist der wesentliche Unterschied!

Kinder wissen, wie gut sie in etwas sind

Es ist sehr wichtig, zu wissen, dass Lob Kindern keine Qualität vermittelt. Und Kinder ab dem sechsten oder siebten Lebensjahr sind sehr realistisch: Sie wissen, wie gut sie sind, denn sie vergleichen sich mit ihren Freunden. Wenn sie also einen Aufsatz schreiben, wissen sie, dass ihr Aufsatz nicht so gut ausgefallen ist wie der ihres Banknachbarn. Wenn sie nun nach Hause gehen und die Eltern sagen: «Wie toll dieser Aufsatz ist, den kopieren wir gleich und schicken ihn an alle Verwandten!», dann weiss das Kind, dass dies nicht wahr ist. Es weiss: «Meine Eltern loben mich jetzt so, weil sie mich lieben, und das ist okay! Aber ich weiss, dass dieser Aufsatz nicht gut ist.»

Und dies hat nichts damit zu tun, wie es in der Ratgeberliteratur aus Amerika heisst: «Stell dich jeden Tag vor den Spiegel und sag fünf Minuten lang: Ich bin toll!» Nein, das ist es nicht. Das ist eher Selbsthypnose und kann niemandem wirklich ­helfen. In diesem Zusammenhang sind die Kategorien «gut/böse» überflüssig. Menschen sind weder gut noch böse – Menschen sind! Kinder sind weder gut noch böse – sie sind! Und ich habe weder gute noch schlechte Eltern kennengelernt, aber ich habe viele Eltern kennengelernt, die ihr Bestes tun, um gute Eltern zu sein. Ich meine, wir müssen das endlich begreifen: Wir sind Wesen, die sich in Beziehungen befinden.

Ich habe weder gute noch schlechte Eltern kennengelernt. Aber viele, die ihr Bestes tun, ­um gute Eltern zu sein.

Dazu möchte ich ein Beispiel anführen: In einem unserer dreijährigen Trainingsprogramme in Dänemark gibt es eine Frau, die gleich im ersten Jahr schwanger wurde und sich kurz danach scheiden liess. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr sieben Monate altes Baby mitzubringen. Und für mich ist dieser kleine Junge der beste Beweis dafür, dass Kinder als soziale, auf andere bezogene Wesen zur Welt kommen. Er sass inmitten der ­Gruppe auf dem Boden und spielte mit allen möglichen Spielzeugen. Klar geschah es im Fünfzehn-Minuten-Takt, dass er sich mit irgend­etwas wehtat. In solchen Momenten richtete er sich auf und schaute seine Mutter an: Wenn er nun beobach­tete, dass seine Mutter gerade beschäftigt war – sie unterhielt sich mit jemandem oder sie dachte angestrengt nach –, dann hat er sich an den nächsten Menschen gewendet und dann weiter an den nächsten und so weiter, bis er jemanden entdeckte, der für ihn zugänglich war. Dort ist er hingekrabbelt, derjenige hat ihn auf den Schoss genommen, der Kleine hat ein bisschen geweint und ist wieder zurück zu seinen Spielsachen. Wenn er allerdings Hunger bekam, dann schaute er ­seine Mutter so lange an, bis sie ihn wahrnahm, denn dafür ist nur sie als Einzige geeignet. 

Dieser Junge hat sich besser in einer Gruppe verhalten, als die meisten Erwachsenen es tun. Warum? Weil seine Mutter Vertrauen in ihn hatte: Er kann sich sozial verhalten. Klar fühlte sie sich am Anfang etwas schulig, ihr Kind könnte eventuell die anderen stören. Aber nachdem das in der Gruppe offen diskutiert wurde und alle einverstanden waren, dass der Kleine dabei sein darf, ­fühlte sie sich wohl damit. Hätte sie sich nun aber weiterhin schuldig gefühlt und gemeint, ihr Sohn ­würde die anderen stören, wäre es auch genauso gekommen: Es wäre ihm genauso unangenehm geworden wie seiner Mutter. Er kann sich deshalb so sozial verhalten, wie er sich verhält, weil sich seine Mutter mit so viel Vertrauen auf ihn bezieht – der Bezug der Mutter hat also eine hohe Qualität. 

Alles, was sie wissen muss, ist, dass sie ihrem kleinen Sohn dies am Ende jeden Tages bestätigen ­sollte, indem sie ihn umarmt und ihm sagt: «Ich freue mich, dass du dich in dieser Gruppe gut fühlst, denn so kann ich weiterlernen und -arbeiten!» Auch wenn der Junge die Worte nicht begreift, er versteht ihren Ausdruck. Er muss nicht jedes einzelne Wort verstehen. Aber der Ausdruck der Mutter ist ein Feedback, das sein Selbstwertgefühl wachsen lässt. Er fühlt sich wertvoll für seine Mutter. 

Meist reagieren aber Mütter automatisch mit Sätzen wie: «Du bist so ein süsser, braver Bub. Mama liebt dich so sehr!» Und damit wird er kategorisiert. Er wrd in so einem Fall zwar sehr glücklich sein – aber für seine Mutter und nicht für sich selbst. Das ist der Unterschied!

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

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