Wie mir Remo Largo die Welt der Kinder erklärte - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Wie mir Remo Largo die Welt der Kinder erklärte

Lesedauer: 5 Minuten
Eine persönliche Hommage an den Mann, der unsere Autorin mit seinen Büchern in schlaflosen Nächten und an verzweifelten Tagen gerettet hat.
Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, war ich überglücklich und unfassbar arrogant. Ich war jung, fit und hielt mich für eine vorbildliche Schwangere. Ich las mich durch sämtliche Schwangerschaftsbücher, ernährte mich nach ayurvedischem Prinzip, trieb Sport, ging zum Schwangerschaftsyoga, als Geburtsvorbereitung zum Mom-to-be-schwimmen und trank Himbeerblättertee. Ich träumte von einer Bilderbuchgeburt im Wasser und von einem selig schlummernden Traumbaby.
Natürlich kam alles anders. Ganz anders.
 
Nun muss man wissen, ich habe vier Kinder. Ich liebe sie innigst. Als junge Mutter war ich jedoch oft überfordert. Mein Erstgeborener hatte schon als Baby seinen eigenen Kopf: Der errechnete Geburtstermin war ihm schnuppe, er drängte mit einem Wahnsinnstempo auf die Welt, hatte alle zwei Stunden unbändigen Hunger, trank zu gierig und schrie sich deshalb regelmässig die Lungen aus dem Leib. Ja, er war schon als Mini-Menschlein mit einem herzensguten, aber feurigen Temperament gesegnet. 

Autorin Claudia Landolt mit ihrem ersten Sohn

Autorin Claudia Landolt mit ihrem ersten Sohn
Ich gab mich meinen Hormonen hin, schwelgte in der unbändigen, neuen Liebe und versuchte, alles richtig zu machen. Das gelang mir tagsüber meist ganz gut. Nachts hingegen scheiterte ich kläglich. Nach vier Monaten ohne nennenswerte Nachtruhe bekam mein Sohn vier Zähne auf einmal, und alles wurde noch viel schlimmer. Ich fand das Zusammenleben mit meinem kleinen Muttermilch-Buddha oft nicht einfach, zumal er ja nicht sprechen konnte und ich/wir ständig raten mussten, was gerade los ist, was er braucht, ob etwas fehlt, wenn ja, was, ob das schlimm ist oder nicht. Ich hatte viele, oh so viele Fragen. Mein Umfeld überschüttete mich mit Ratschlägen. Die Mutterberatung riet mir abzustillen, der Kinderarzt zur frühen Beikost, die Schwiegermutter sagte, ich sollte das Kind einfach schreien lassen, die Nachbarin riet zu mehr Gelassenheit und meine kinderlosen Freundinnen schenkten mir den Buchklassiker «Jedes Kind kann schlafen lernen», dessen nordkoreanischen Methoden mich entsetzten. 
Ich fühlte intuitiv, dass hinter jeder dieser Aussage eine Normvorstellung stand, die für mich nicht stimmig war. Doch was sollte ich tun? Den eigenen Weg zu gehen erfordert viel Kraft. Und ohne Schlaf ist es schwierig, diese Kraft zu finden. Eines Morgens, als ich für einen doppelten Cappuccino zu meinem Stammcafé spazierte, machte ich einen Abstecher in die angrenzende Buchhandlung. Die nette Buchhändlerin warf einen Blick auf mein schlummerndes Kind im Tragetuch und auf meine Augenringe. Sie gab mir das Buch «Babyjahre» von Remo Largo in die Hand. Es war meine Rettung. In einem Zug las ich es durch. Und ich vertraute diesem Mann, der mir als Autor so allwissend erschien, sogleich.
 
Wer «Babyjahre» in seinem Bücherregal vorliegen hat, weiss, dass es am Ende des Buches eine Matrix gibt, das sogenannte 24-Stunden-Protokoll. Ich habe das Buch jetzt, als ich vom Hinschied Remo Largos erfuhr, wieder durchgeblättert und entdeckte das von mir ausgefüllte Schlafprotokoll. Ich erkannte: mein Sohn hatte doch eigentlich einen richtig guten Tag-/Nachtrhythmus! Wie prächtig er doch gedieh! Ab dem Alter von zwei Monaten bewegte er sich stets zwischen der 92. und 95. Perzentile. Alles gut!
 
Das muss ich damals ebenso erkannt haben, denn nach drei Wochen beendete ich das Schlafprotokoll. 

Das ausgefüllte Schlafprotokoll aus dem Buch «Babyjahre»

Das ausgefüllte Schlafprotokoll aus dem Buch «Babyjahre»
Folgende Stelle hatte ich mit einem Ausrufezeichen markiert: 
 
«Eltern gehen beispielsweise davon aus, dass ein Kind im Alter von drei Monaten nachts durchschläft, dass es mit einem Jahr die ersten Schritte macht und mit zwei Jahren spricht. Solche Vorstellungen entsprechen den Kindern aber nur ausnahmsweise, weil sich Kinder sehr unterschiedlich entwickeln. Normvorstellungen sind Fehlerwartungen. Sie sind weniger eine Hilfe als vielmehr eine Verunsicherung für Eltern.»
 
Und:
 
«Wie können sich Eltern von Normvorstellungen, überlieferten Grundhaltungen und festgefügten Ratgeberkonzepten lösen? Wie gelingt es ihnen, sich am aktuellen Entwicklungsstand und den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes zu orientieren? Dazu sind zwei Dinge hilfreich: Gewisse Kenntnisse über den Ablauf und die Vielfalt der kindlichen Entwicklung und die Bereitschaft, auf das kindliche Verhalten zu achten und sich darauf einzustellen. Wenn Eltern wissen, dass der Schlafbedarf unter Kindern unterschiedlich gross ist, werden sie sich nicht nach irgendwelchen Angaben richten. Sie werden vielmehr darauf achten, wie viel Schlaf ihr Kind braucht.»
Remo Largo hat mir in seinen «Babyjahren», in seinen «Kinderjahren», den «Schülerjahren» und den «Jugendjahren» erklärt, wie kleine Kinder im Allgemeinen gross werden. Was sie dafür brauchen, wie man es ihnen geben kann. Zugleich machen alle seine Bücher eins deutlich: Jedes Kind ist einzigartig. Und genau deshalb lautet Largos zentrale Botschaft, dass Eltern, Bezugspersonen und Lehrpersonen versuchen sollten, jedem Kind zu erlauben, es selbst zu werden. 

Viel gelesen, heiss geliebt: Remo Largos Bücher

Viel gelesen, heiss geliebt: Remo Largos Bücher
Was natürlich furchtbar human ist, aber auch wahnsinnig schwer. Remo Largo hat das Kunststück geschafft, dass ich verstehe, dass jedes meiner Kinder tagtäglich sein Bestes gibt. Und ich mein Dasein als Mutter primär so begreife, dass es das absolute Recht hat, seine Individualität und das für ihn passende Leben leben zu dürfen. Es ist also meine Aufgabe, stets mit hundertprozentiger Liebe hinter der Einzigartigkeit meiner Kinder zu stehen. 
 
Remo Largos Bücher begleiten mich auch jetzt. Zwei meiner Kinder sind jetzt in der Pubertät. Es ist die Zeit des Loslassens, des Gewährenlassens und des Vertrauens, und wieder ist es manchmal so wie damals vor vielen Jahren, als ich nachts vollkommen fertig vom Schlafentzug das Schlafverhalten von Babys studierte: Ich blättere in Remo Largos Büchern, und seine Erkenntnisse machen mir Mut und vermitteln mir Ruhe. Und so gebührt der Schluss meines Textes auch ihm, der wie keiner zuvor die unbedingte Liebe zwischen Eltern und Kinder betont hat. Diese Liebe, Achtsamkeit und Geduld gibt folgendes Zitat wieder:
«Als meine Töchter in die Pubertät kamen, wurde mir als Vater bewusst, wie viel Zuwendung ich von ihnen in den vergangenen Jahren erhalten hatte, oft einfach so, ohne etwas dafür zu leisten. Mir wurde einmal mehr klar, welch grosses Geschenk diese bedingungslose Liebe der Kinder für uns Eltern ist. Ich musste lernen, den Anspruch auf kindliche Liebe aufzugeben, zumindest auf den bedingungslosen Teil dieser Liebe zu verzichten, und hoffen, dass eine neue partnerschaftliche Beziehung zwischen uns entstehen würde. Versuchen wir Eltern hingegen die Zuwendung bei den Kindern einzufordern und machen ihnen gar Vorwürfe, laufen wir Gefahr, dass sie sich nur noch mehr von uns abwenden. Wenn Kinder in die Pubertät kommen, müssen wir Eltern nicht nur umdenken, sondern auch umfühlen.»
 
Danke, Remo Largo!

Die besten Zitate von Remo Largo


Er war der berühmteste Kinderarzt der Schweiz. Und einer der wichtigsten Erziehungsexperten im deutschsprachigen Raum. Am 11. November 2020 ist Remo Largo im Alter von 76 Jahren gestorben.
Er war der berühmteste Kinderarzt der Schweiz. Und einer der wichtigsten Erziehungsexperten im deutschsprachigen Raum. Am 11. November 2020 ist Remo Largo im Alter von 76 Jahren gestorben. Lesen Sie in diesem Dossier die wichtigsten Texte von Remo Largo und einen Nachruf von Chefredaktor Nik Niethammer.