05. März 2017
Herr Juul, warum ist Streit wichtig?
Interview: Sandra Casalini
Lesedauer: 2 Minuten
In Zeiten, in denen das elterliche Machtwort obsolet geworden ist, braucht es Mütter und Väter, die ihre Normen und Werte klar kommunizieren. Familientherapeut Jesper Juul verrät, wie das geht und vor allem, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist.
Herr Juul, früher gab es so etwas wie das elterliche Machtwort. Was Vater und Mutter sagten, war Gesetz. Kinder hielten sich, mehr oder weniger, an klare Regeln.
Ja – in Zeiten, als Regeln noch funktionierten. Es gab einen Konsens in unserer Gesellschaft, was Werte anging, und in den meisten Familien herrschten dieselben Regeln. Heute gibt es diese Einheit von Regeln und Werten nicht mehr, und die meisten Kinder haben keine Angst vor Erwachsenen.
Sicher eine positive Entwicklung. Aber was ist an dessen Stelle getreten?
Erst einmal: Die Vorstellung von elterlicher Führung hat sich in über einem Jahrhundert kaum verändert. Sie hat sich nur modernisiert und demokratisiert, zum Beispiel geben Eltern ihren Kindern heute mehr Freiheiten. Was wir alle möchten – übrigens auch die Kinder – ist, dass die Werte, welche Eltern und Schulen als gut für die Familie und ihre Mitglieder definieren, respektiert werden. Dies gilt auch für die von Eltern definierten persönlichen Grenzen. Um das zu erreichen, braucht es zwei Dinge: Führungsqualitäten und Eltern, die vertrauenswürdige Vorbilder sind.
Jesper Juul ist der berühmteste Familientherapeut Europas. Er ist Buchautor und Vater eines erwachsenen Sohnes. Juul lebt in Dänemark. Er schreibt regelmässig Ratgeber-Kolumnen für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi.
Was machen Eltern Ihrer Meinung nach denn am häufigsten falsch, wenn sie in Konflikte mit ihren Kindern geraten?
Viele Eltern kommunizieren ihre Wertvorstellungen nicht früh genug und verweigern so den Kindern die Möglichkeit, sich miteinbezogen zu fühlen. Eltern nehmen sich nicht die Zeit, darüber zu reden, welche Werte sie ihren Kindern vermitteln möchten und wie sie ihnen diese zeigen und vorleben wollen. Dem kann man etwa so vorbeugen – aber bitte nicht während oder direkt nach einem Konflikt: «Weisst du noch, als ich mich geärgert habe, weil du deine Legosteine nicht aufräumen wolltest? Ich habe darüber nachgedacht und gemerkt, dass wir dir nie gesagt haben, welches Verhalten wir wichtig und richtig finden in unserer Familie. Du bist kein Baby mehr, und es ist Zeit, dass du einige Sachen selbst erledigst und uns manchmal hilfst, wenn wir danach fragen.»
Was bewirkt eine solche Aussage bei meinem Kind?
Es wird den genauen Inhalt dieses Gesprächs zwar vergessen, nicht aber das Gefühl, als gleichwürdiger Partner miteinbezogen zu werden. So können Eltern Regeln aufstellen und gleichzeitig den Ton definieren, in dem künftig Konflikte ausgetragen werden. Das ist der Unterschied zwischen moderner Führungsqualität und veralteter Gehorsamskultur. Über die Regel – alle Familienmitglieder müssen zum Wohl der Familie beitragen – gibt es nichts zu diskutieren, aber über die Art, wie man nach ihr lebt, kann verhandelt werden.
Kann man «richtig» streiten?
Für mich bedeutet das, so zu streiten, dass die persönliche Integrität der anderen Person nicht verletzt wird. Das ist definitiv möglich. Aber so, wie die meisten von uns aufgewachsen sind, braucht es sehr viel Übung – obwohl es eigentlich simpel ist. Dabei sind Ich-Botschaften wichtig. So kommt ein «Ich hasse es, wenn du mich ignorierst» beim Gegenüber besser an als ein «Du hörst mir nie zu!».
«Wer seine Gefühle begräbt, begräbt sie lebendig. So leben sie innen drin unkontrollierbar weiter.»
Jesper Juul
Nun gibt es viele, die einem Streit lieber aus dem Weg gehen.
Seine Gefühle zu verstecken oder politisch korrekt zu sein, ist nicht die Lösung. Der andere fühlt die versteckten Emotionen, und gerade bei Kindern ist das gefährlich, weil sie ihrer Fantasie überlassen sind, und diese richten sie immer negativ gegen sich selbst. Man muss sich bewusst sein: Wer seine Gefühle begräbt, begräbt sie lebendig. So leben sie innen drin unkontrollierbar weiter. Bei sozialen Kontakten, die nicht so wichtig sind, spielt das keine Rolle, in nahen, persönlichen Beziehungen aber umso mehr.
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