Herr Fritz-Schubert, wie finden Kinder ihre Stärken?
Fotos: Michael Hudler / 13 Photo
Wie können das Glück und die Zufriedenheit von Kindern, Erwachsenen und somit der ganzen Gesellschaft gestärkt werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich Ernst Fritz-Schubert, ehemaliger Schulleiter und systemischer Therapeut, mit seinem Team. Ein Gespräch über Selbstfindung, die Fähigkeit, eigene Stärken zu nutzen, und das Schulfach «Glück».
Sie sagen, dass Kinder, die für ihr Wohlbefinden sorgen können, besser vor psychischen Problemen geschützt seien.
Ja – und dabei geht es um ein längerfristiges Wohlbefinden, also um Zufriedenheit. Drei Themen sind dabei zentral: Wie kann ich zu guten Gefühlen kommen? Wie entwickle ich Engagement? Und wie schaffe ich es, erfüllende Beziehungen zu haben? Besonders bedeutend ist dabei der Glaube an sich selbst, an die eigene Einzigartigkeit und daran, dass ich im Besitz von Stärken bin. Um diese zu erkennen, brauchen wir Menschen um uns, die uns positive Rückmeldungen geben, uns spiegeln und wertschätzen.
Und was passiert mit den Kindern, die kaum erfahren, welches ihre Stärken sind, und die wenig über ihre Bedürfnisse Bescheid wissen?
Das sind oft die Kinder, die sich anpassen müssen, mit dem Strom fliessen. Oder sie zeigen möglicherweise aggressives Verhalten, um sich vermeintlich stark zu fühlen, oder werden depressiv. Und weil sie ihre Stärken nicht kennen, können sie sich selber auch nicht wirklich leiden. Viele Kinder wissen mehr über ihre Schwächen als über ihre Stärken. Überall wird nach Fehlern und Pannen gesucht – und nicht nach unseren Schätzen! Wir müssen aber unsere Schätze kennen, sie benutzen und damit umgehen lernen. Wenn ich etwas gut kann, fühle ich mich auch wohl damit.
«Um sich selber auch leiden zu können, sollte man seine Stärken kennen.»
Ernst Fritz-Schubert erhebt sich von seinem Sessel und holt einen Ball und einen dicken roten Faden aus seinem Arbeitszimmer. Er wirft der Journalistin den Ball zu mit der Bemerkung: Der wird in Ihren Händen nun zu einem Stärkeball! Sagen Sie also spontan, was Sie gut können, und werfen Sie mir den Ball zurück! Ernst Fritz-Schubert und die Journalistin beginnen, sich den Ball gegenseitig zuzuwerfen und nennen abwechslungsweise ihre Stärken. Nun gibt er der Journalistin den roten Faden in die Hand mit der Aufforderung: Stellen Sie sich drei Ereignisse vor, die für Sie wichtig waren in Ihrem bisherigen Leben! Überlegen Sie für ein Ereignis, mit welchen Stärken Sie aus diesem hervorgegangen sind und wie Sie es bewältigen konnten! Die Journalistin lässt sich auf die Übung ein und erzählt von sich und einem Ereignis, das für sie von besonderer Bedeutung war. Darauf fasst Ernst Fritz-Schubert zusammen: Sie haben mit Hilfe Ihrer Erinnerung Stärken und Kräfte aktiviert, die in Ihnen stecken – und die Sie für vieles andere auch brauchen können. Diese kurzen Übungen zeigen, wie auch Kinder herausfinden, welches ihre Stärken sind, was zu ihnen gehört und was sie ausmacht. Denn wenn ich weiss, wer ich bin und welches meine Möglichkeiten sind, finde ich meinen Platz in dieser Welt. Das ist ein sehr befriedigendes Gefühl.
Welche Stärke besitzen Sie denn seit Ihrer Kindheit?
Ich fahre seit meiner Jugend Rennrad. Heute bin ich 67 und tue dies immer noch – und es macht mir unglaublichen Spass, den Berg herunterzufahren oder mit anderen mithalten zu können, die vielleicht jünger sind als ich. Schon als Jugendlicher fühlte ich mich sehr gut, wenn ich auf dem Rennrad trainieren konnte. Und ich habe dabei Stärken eingeübt wie Durchhaltewille und Ausdauer, die mir auch in anderen Bereichen nützlich geworden sind. Wenn wir also wissen, wie wir unsere Stärken aktivieren können, geht es uns gut. In der Schule, dem Ort, wo Kinder unzählige Stunden ihres Lebens verbringen, passiert das leider oft zu wenig.
Wie meinen Sie das?
Viele Kinder lernen bis zu dem Zeitpunkt, wo sie in die Schule kommen, extrem motiviert, fallen hundertmal hin und stehen wieder auf, um beispielsweise laufen zu üben. Doch dann werden sie eingeschult, und dieses intrinsisch motivierte Lernen liegt zusehends brach. Das Schönste an der Schule sind dann für viele Kinder noch die Pausen und die Ferien. Es gibt den Spruch: Der Lehrer legt eine künstliche Fährte aus, und die Schüler tun so, als nähmen sie diese auf. Kinder sind in der Schule fremdbestimmt, werden benotet, sie werden richtiggehend funktionalisiert. Sie gestalten nicht selber, der Glaube an das Eigene wird nicht entwickelt. In der Schule erfolgreich zu sein, heisst, aufpassen, mitschreiben, reproduzieren, nicht allzu oft dem Lehrer widersprechen – also mehr oder weniger windschnittig werden.
Am besten würden Kinder und Jugendliche beispielsweise lernen, indem sie auch selbst lehren, also das Gelernte an andere weitergeben. Und wenn ich das Gelernte zudem anwenden kann, treibt mich dies ebenfalls an. Der Erwerb einer Fremdsprache könnte etwa mit anderen Jugendlichen zusammen geschehen, die diese Sprache reden. Beim Lernen braucht es einen Bezug zum Alltag, zur Praxis. Und vor allem ist es auch Aufgabe der Lehrperson, mit den Kindern herauszufinden, was diese gut können. Die Beziehung zum Lehrer ist dabei von zentraler Bedeutung. Wenn der Lehrer zum Beispiel sagt: Mathematik ist wichtig, ihr könnt mir vertrauen – und er diese Überzeugung auch wirklich ausstrahlt und lebt, dann identifizieren sich die Schüler mit ihm und den Inhalten, die er ihnen vermittelt, und das Lernen kann funktionieren. Der Lehrer muss den Kindern natürlich auch erklären, wozu Mathematik nützlich ist. Er überträgt seine Begeisterung auf die Schüler, und so finden Widerhall und Resonanz statt. Doch dies bedingt, dass sich der Lehrer auf diesen Entwicklungsprozess mit seinen Schülern einlässt.
«Lernen kann dann glücklich machen, wenn sich Lehrer wirklich auf die Kinder einlassen.»
Indem auch der Lehrer sich in Selbstbildung übt und um seine Stärken weiss. Und es braucht eine Beziehungsbasis zwischen Lehrer und Schüler, die auf Ehrlichkeit und Offenheit beruht. So wird es dem Lehrer auch möglich, sich echt zu zeigen, vielleicht einmal morgens vor die Klasse zu stehen und zu sagen, dass es ihm heute nicht besonders gut gehe, weil er auf der Hinfahrt eine Busse kassiert hat. Er kann dies, weil er vor den Schülern nicht verbergen muss, wie er sich fühlt. Und dann lädt er die Kinder vielleicht ein, Ideen anzubringen, damit aus dem Unterricht doch noch was wird, im Sinne von: Lasst euch etwas einfallen, um meine Laune zu heben …!
All diese grundlegenden Dinge, von denen Sie sprechen, sollen Kinder im Schulfach «Glück», das Sie initiiert haben, lernen. Wie geschieht das?
Die Kinder erfahren, wer sie sind und was sie können und brauchen, um ihre Stärken umzusetzen. Dieser Persönlichkeitsbildungsprozess passiert in sechs Stufen. Zuerst lernen die Schüler ihre Stärken kennen. Dann setzen wir uns damit auseinander, welche Träume die Kinder haben. Und sie lernen zu entscheiden, zu planen und umzusetzen. Und ganz wichtig ist immer auch die Reflexion – das vertiefte Nachdenken. Wer dies kann, dem nützt es für sehr viel anderes im Leben ebenfalls.
Das Schulfach «Glück» wird als separate Unterrichtseinheit angeboten?
Will eine Lehrperson diese grundlegenden Inhalte auch im Mathematik- oder im Sprachunterricht einbauen, umso besser! Wenn der Lehrer etwa zu seinen Schülern sagt: Wir möchten nun gemeinsam ein bestimmtes Lernziel erreichen, und wir überlegen uns jetzt, welche Stärken wir alle haben, wie wir mit diesen umgehen und so zum Ziel kommen. Dann kann er mit den Schülern den Fragen nachgehen: Woran merken wir, dass wir voranschreiten? Wie lernen wir, uns zu konzentrieren, zu motivieren? Und wenn man an Grenzen kommt: Wie überwinden wir diese? Welche Ressourcen können wir aktivieren?
Es bedingt vor allem eine Offenheit, sich auf diesen beziehungsorientierten Lernprozess einzulassen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich bin sportpsychologischer Berater der Jugendförderung eines Bundesligafussballvereins. Wir hatten einmal ein intensives Gespräch mit einem Spieler aus einer Mannschaft – einem Stürmer –, und man darf sagen, dass dieser Jugendliche aus seiner Position heraus eher ichbezogen unterwegs war. Dabei stellte sich heraus, dass dieser junge Mann das Bedürfnis hatte, in der Mannschaft besser aufgenommen zu sein, also sozialer zu werden. Die anderen im Team waren zuerst skeptisch: Sollte es ihrem Kollegen tatsächlich gelingen, sich mehr auf die Gruppe einzulassen? Wir fingen an, an seinen Stärken zu arbeiten, die hilfreich sein könnten, um dieses Ziel zu erreichen. Und so kamen wir auf seinen Humor. Der junge Stürmer hatte die Fähigkeit, über sich selber zu lachen – und dies machte ihn sympathisch. Indem er sich nun vermehrt auf diese Stärke, eben seine Selbstironie, konzentrieren sollte, lernte er nicht nur sich selber besser kennen, sondern machte auch die Erfahrung, wie er seine Stärken nutzen konnte.
Hat die Umsetzung also funktioniert?
Ja, vier Wochen später war die Begeisterung über die eingetretene Veränderung in der gesamten Mannschaft spürbar. Der vormals eher selbstbezogene Stürmer war inzwischen viel sozialer geworden! Solche Fortschritte können nur dann geschehen, wenn eine Offenheit da ist und es auch möglich ist, eigene Bedürfnisse anzubringen, man sich also für diese nicht zu schämen braucht.
Verändern sich Kinder und Jugendliche, allenfalls ganze Schulklassen, die in «Glück» unterrichtet wurden?
Aussagen zur Selbsteinschätzung der Schüler, die das Schulfach «Glück» besuchten, lauten zum Beispiel: «Ich weiss jetzt genauer, was ich will und was ich nicht will.» Oder: «Ich hätte nie gedacht, dass wir so viele nette Mitschüler in unserer Klasse haben.» Zudem berichten die Lehrer über selbstbewusstere und engagiertere Schüler. Die durchgeführten Evaluationen bestätigen diese Eindrücke. Es konnte eine Zunahme der Selbstwirksamkeit, des Selbstvertrauens und ein gewachsenes und stabileres Selbstwertgefühl empirisch festgestellt werden. Das sind alles wichtige Voraussetzungen für die seelische Gesundheit und starke Persönlichkeiten.
Selbsterkenntnis macht glücklich?
Ja, aber das Erkennen alleine reicht noch nicht, man muss die Erkenntnisse dann auch leben, umsetzen und üben. Dazu gehört, sich selber und anderen gegenüber achtsam zu sein.
Sind Sie glücklich?
Glück ist für mich kein Endzustand, sondern vielmehr ein Prozess. Dauernd glücklich zu sein, wäre mit der Zeit langweilig. Ich freue mich, dass ich das Leben mit Menschen, die ich gerne mag, geniessen darf. Und ich bin bereit, mich Herausforderungen zu stellen, an denen ich wachsen kann
Zur Person:
Das Fritz-Schubert-Institut
Buchtipps:
- Ernst Fritz-Schubert: Glück kann man lernen. Was Kinder stark fürs Leben macht. Ullstein, Taschenbuch. Fr. 12.90
- Ernst Fritz-Schubert, Wolf-Thorsten Saalfrank, Malte Leyhausen: Praxisbuch Schulfach Glück. Grundlagen und Methoden. Beltz. Fr. 39.90 (erscheint am 14. September)