Frau Allebes, was kann ich tun, wenn mein Kind trotzt?
Fotos: Paolo Dutto / 13 Photo
Was soll man Jugendlichen erlauben, was nicht? Wie gehe ich vor, wenn mein Kind trotzt? Die Elternberaterin Rochelle Allebes spricht über verunsicherte Väter und Mütter und sagt, warum eine klare Linie in der Erziehung wichtig ist und wie man als Eltern eine eigene Haltung entwickelt.
Frau Allebes, in der Buchhandlung und im Internet können Eltern heute viele Ratgeberbücher und -seiten über Kindererziehung finden. Wie beurteilen Sie das?
Einerseits kann es ein Zeichen dafür sein, dass Eltern verunsichert sind und sich erhoffen, in den Ratgebern Hilfe zu finden. Andererseits stehen inzwischen viele Mütter und Väter unter dem Druck, ihr Kind richtig zu fördern, und sind deshalb auf der Suche nach einer optimalen Anleitung dafür. Die Karriereplanung beginnt heute schon bei den Zweijährigen. Es gibt jedoch nicht das eine Erziehungsbuch, nach dem sich alle richten können. Die Vielfalt an Ratgebern ist gross, und oft lautet das Fazit, dass Eltern für sich herausfinden müssen, wie sie erziehen wollen, was für sie stimmt. Vielleicht sollten Mütter und Väter etwas weniger in Büchern und im Internet und stattdessen ihre Kinder «lesen»! Eltern sind nämlich Experten für ihre eigenen Kinder!
Was heisst das?
Dass man Kinder als eigenständige, einzigartige Persönlichkeiten wahrnehmen sollte, die einen ganz individuellen Charakter haben. Ich habe kürzlich einen Dokumentarfilm gesehen, darin kam eine Familie vor, die sehr wenig Geld hat. Der Sohn kam eines Tages nach Hause und war sehr beeindruckt von einem Geiger, den er auf der Strasse spielen gehört hatte. Von da an hegte er den Wunsch, auch Geige zu spielen. Die Familie konnte dies dem Knaben nicht ermöglichen. Doch der Vater kam ein paar Wochen später mit einem Geigenbogen nach Hause und schenkte ihn seinem Sohn. Obwohl es fern jeder Realität war, dass der Sohn das Geigenspiel erlernen konnte, hatte der Vater das Bedürfnis seines Kindes gesehen und ernst genommen und versucht, darauf einzugehen. Für den Sohn hiess dies: Mein Vater sieht mich, mein Vater nimmt mich wahr. Interessanterweise bemängeln Jugendliche, die jeweils für die deutsche Shell-Jugendstudie befragt werden, immer wieder genau das: dass sie nicht ernst genommen, nicht gesehen würden, sondern es den Eltern vor allem um ihre Leistungen oder darum ginge, dass sie keinen Alkohol oder andere Drogen konsumierten.
«Mütter und Väter sind Experten für ihre Kinder und sollten sie vor allem ernst nehmen.»
Elternberaterin Rochelle Allebes
Ich finde es enorm wichtig, dass Eltern wirklich die Bereitschaft haben, ihr Kind kennenzulernen, und nicht voreingenommen sind und denken, sie wüssten ja sowieso, wer ihre Tochter oder ihr Sohn sei. Ich versuche, bei den Eltern den Blick für das Wesen des Kindes, für seine Einzigartigkeit, zu schärfen, so dass sie das Kind wahrnehmen, wie es ist, und nicht, wie sie glauben, dass es ist. Mit Eltern, die ihre Kinder extrem pushen, thematisiere ich dann zum Beispiel, warum sie so leistungsorientiert sind. Und ich stelle provokative Fragen wie: Würden Sie Ihr Kind weniger lieben, wenn es denn schulisch nicht erfolgreich wäre?
Sie waren 22 Jahre als Beraterin beim «Elternnotruf» tätig. Was verunsichert Eltern in der Erziehung ihrer Kinder besonders?
Da im Allgemeinen die Beziehung zum Kind mehr in den Vordergrund getreten ist in den letzten Jahrzehnten, haben manche Eltern zum Beispiel auch verstärkt Angst, von ihren Kindern etwas einzufordern, weil sie die Befürchtung hegen, sonst nicht mehr geliebt zu werden. Eltern sind heute zum Teil emotional sehr abhängig von ihren Kindern, möchten in deren Gunst stehen – es hat also eine Art Umkehrung stattgefunden: Denn eigentlich sind es ja die Kinder, welche die elterliche Liebe brauchen …
Die Basis dafür, um von den Kindern Respekt einzufordern, ist ein gewisser Selbstrespekt. Und wenn der nicht vorhanden ist, sind Eltern nicht in der Lage, von ihren Kindern zu verlangen, ihnen gegenüber Respekt zu zeigen. Erziehung bedeutet, sich als Mutter und Vater immer wieder mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich zu fragen: Welche Ziele verfolge ich, und welche Werte vertrete ich? Warum fällt es mir so schwer, Nein zu sagen? Eltern müssen heute ihren eigenen Weg finden, wie sie erziehen wollen, es ist wichtig, den Kindern gegenüber eine klare Haltung einzunehmen.
«Ich stelle immer wieder einen deutlichen Verlust der elterlichen Präsenz fest.»
Elternberaterin Rochelle Allebes
Wenn es grosse Schwierigkeiten in der Erziehung gibt, sage ich den Eltern, sie sollten versuchen, zweigleisig zu fahren. Einerseits geht es darum, ihr Kind zu verstehen: Was ist los? Warum verhält sich meine Tochter oder mein Sohn so? Aber eben auch eine klare Haltung einzunehmen und dem Kind gegenüber zu äussern, dass gewisse Verhaltensweisen nicht drinliegen, nicht tolerierbar sind. Oft erlebe ich, dass Eltern nur auf einem Gleis unterwegs sind. Entweder, sie wollen das Kind ausschliesslich verstehen – zum Beispiel, wenn eine Mutter von ihrem jugendlichen Sohn geschlagen wird, und sie sich sagt: «Ich verstehe mein Kind, es ist ja auch in einer schwierigen Situation mit mir als alleinerziehender Mutter.» Oder dann sehe ich das andere Extrem, wo Eltern ihr Kind ständig kritisieren, ohne die Hintergründe für das Verhalten des Jugendlichen verstehen zu wollen. In beiden Fällen ist ein deutlicher Verlust der elterlichen Präsenz festzustellen.
Worin bestehen denn die Schwierigkeiten, wenn Eltern Angst vor ihren Kindern haben?
Angstgesteuerte Erziehung ist keine wirkungsvolle Erziehung, weil man als Mutter oder Vater erpressbar wird. Dann muss ich Eltern dabei unterstützen, sich mit sich selbst, dem eigenen Erziehungsverhalten auseinanderzusetzen. Als Beispiel: Wenn Eltern zu mir kommen und seit Längerem darunter leiden, dass ihr Sohn nur noch zu Hause in seinem Zimmer rumhängt, die Schule nicht besucht, keine Lehre machen will, schaue ich mit ihnen zuerst einmal, warum sie diese Situation bereits über eine lange Zeit ausgehalten und erduldet haben. Dann erfahre ich oft, dass dem Sohn nach wie vor die Wäsche gewaschen, das Lieblingsessen gekocht und der Kühlschrank mit Cola und Eistee gefüllt wird.
In solchen Fällen versuche ich, die Eltern darin zu unterstützen, diese Service-Leistungen einzuschränken. Und parallel dazu soll die Kommunikation mit dem Jugendlichen auf allen Kanälen – wenn er sich dem Gespräch verweigert auch via SMS und E-Mail – gesucht und verstärkt werden. Die Eltern können sich so mitteilen, selbst wenn vom Jugendlichen keine Antwort kommt. Dies alles kann auch mit der Unterstützung von weiteren Bezugspersonen aus dem Umfeld geschehen. Auf diese Weise merkt der betroffene Jugendliche, dass immer mehr Leute von seiner Situation erfahren und etwas ändern möchten. Vielleicht kommen Verwandte und Freunde alle zusammen und beraten sich, wie sie gemeinsam helfen können. Durch all diese Schritte verdeutlicht sich die Haltung der Eltern – und der Jugendliche merkt, dass es so nicht weitergehen kann. Meist bewegt und verändert sich dann etwas.
Sie sagen, viele Eltern hätten heute Angst, den Kindern ein inakzeptables Verhalten zu spiegeln oder ihnen etwas zu verbieten.
Ja – weil sie eben oft keine eigene klare Linie haben. Wenn der Jugendliche nach Hause kommt und sagt, alle anderen dürften auf die Party und bis am Morgen durchfeiern, dann verunsichert das viele Eltern. Statt dass sie erst einmal ruhig bleiben und sagen: «Gib mir bitte vier Telefonnummern von Eltern, die ihren Kindern das angeblich erlauben. Ich möchte mit ihnen sprechen.» Leider tauschen sich Eltern oft kaum mit anderen Müttern und Vätern aus. Das ist schade. Und über ihre Schwierigkeiten mit den Kindern reden sie schon gar nicht – aus Angst davor, als unfähige Eltern dazustehen. Doch dieser Austausch wäre sehr wichtig, eben auch, um an der eigenen erzieherischen Haltung zu arbeiten, diese zu vertiefen. Aber das ist auch ein Zeitphänomen: Man diskutiert seine Probleme nicht mit anderen, sondern stürzt sich zum Beispiel lieber ins Internet und sucht dort nach Lösungen.
Warum ist es so schwer, eine «gute Mutter» oder ein «guter Vater» zu sein?
Die Erwartungen, die Eltern an sich selbst haben, sind oft sehr hoch. Sie wollen perfekt sein, und implizit erwarten sie deshalb auch Dankbarkeit von ihren Kindern. Es ist daher sinnvoll, diese Ansprüche zu hinterfragen. Als Beispiel: Wenn kleine Kinder anfangen, Brei zu essen, gibt es Mütter, denen es enorm wichtig ist, dem Baby den besten und gesündesten Brei selber zuzubereiten. Und was macht das Kind? Es schmiert sich den Brei ins Haar, spielt mit dem Essen, leert den Teller aus und so weiter. Und was bewirkt dies alles bei der Mutter? Enttäuschung! Sie nimmt das Verhalten des Kindes persönlich, weil ihr ganzes Engagement umsonst war. Bei Eltern von Jugendlichen beobachte ich Ähnliches: Die Mutter kommt nach Hause, nachdem sie den ganzen Tag gearbeitet hat, war auf dem Heimweg noch einkaufen, gönnte sich keine Pause, und dann sitzen ihre Teenager faul auf dem Sofa herum und helfen ihr nicht einmal, die Einkaufstaschen auszupacken. Kein Dank, keine Anerkennung. Dabei ist es die Erwartung der Mutter an sich selbst, so viel zu machen, es ist nicht die Erwartung der Kinder an die Mutter. Und so geht die arme Frau schliesslich frustriert in die Küche und erledigt einmal mehr alles alleine.
«Viele Eltern reden nicht über Probleme mit den Kindern; aus Angst davor, als unfähig zu gelten.»
Elternberaterin Rochelle Allebes
Nichts! Die Jugendlichen haben ja, wie gesagt, gar nicht erwartet, dass die Mutter das alles macht und auf sich nimmt. Aus ihrer Sicht steht da eine Mutter vor ihnen, die vor allem eines tut: motzen! Die Kinder sitzen vor dem Fernseher und wollen ihre Ruhe. Ich kenne das auch von mir mit unseren Söhnen. Aber wenn man da plötzlich etwas ändert, kann das ganz schön viel bewirken …
… erzählen Sie!
Als meine Söhne noch Teenager waren, setzte ich mich in einer solchen Situation zu ihnen aufs Sofa und sagte: «Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, bin jetzt müde, habe auch noch eingekauft und möchte mich nun für eine Stunde zurückziehen, um Musik zu hören oder zu lesen. Die vollen Einkaufstüten stehen da, in der Zwischenzeit könnt ihr sie gerne auspacken. Wenn ihr nichts macht, gibt es nachher auch kein Abendessen. Dann essen wir halt einfach Brot und Käse.» Das war kein Gemotze, sondern ich habe meinen Söhnen kundgetan, wie es mir ging und was ich von ihnen verlangte.
Und das sollte man dann auch durchziehen und nicht doch ein Dreigang-Menü zubereiten …
… ja. Und genau da liegt häufig das Problem: Es kostet Eltern enorm viel Kraft, dranzubleiben, konsequent zu sein. Und sie bieten deshalb den Service auch weiterhin an, tragen aber einen unausgesprochenen Frust in sich.
Was raten Sie Eltern von kleineren Kindern, die sich beispielsweise am Morgen nicht anziehen wollen, und schliesslich macht es doch die Mutter, damit das Kind nicht zu spät in den Kindergarten kommt?
Wenn sich das Kind grundsätzlich selber anziehen kann, es aber einfach nicht machen will, kann man ihm zum Beispiel Folgendes sagen: «Schau, wenn du dich nicht anziehst, dann gehst du eben im Pyjama in den Kindergarten!» Vielleicht packt man die Kleider in einen Sack und gibt sie mit. Wichtig ist, vorher mit der Kindergärtnerin zu sprechen, damit sie Bescheid weiss, dass das Kind in den nächsten Tagen allenfalls am Morgen im Pyjama im Kindergarten auftaucht. Und ich versichere Ihnen, die meisten Kinder wollen nicht mehr als einmal im Pyjama vor ihren Gschpänli erscheinen! Das setzt aber eine gewisse Gelassenheit und auch Unbeirrbarkeit voraus, wenn die Nachbarn einen als Rabenmutter bezeichnen, die ihr armes Kind im Pyjama in den Kindergarten schickt …
Es geht also wieder um die klare Haltung und Linie der Eltern.
Ja – ich kann Ihnen nochmals ein persönliches Beispiel schildern: Unser Sohn hatte eine Phase, in der er mit Jugendlichen aus sehr wohlhabenden Familien verkehrte. Es beeindruckte ihn, weil die von ihren Eltern viel Geld bekamen und in ihren Villen mit Swimmingpool Partys schmeissen konnten. Da hat er angefangen, uns zu hinterfragen, warum wir denn kein besseres Auto hätten, keine schöneren Möbel. Wir haben ganz klar gesagt, dass wir seine Faszination für die Welt seiner reichen Kollegen zwar verstehen würden, wir aber nicht nur weniger Geld, sondern auch andere Prioritäten im Leben hätten. Ich habe ihm dann auch erklärt, dass diese Jugendlichen oft mit viel Geld und Geschenken abgespeist würden, weil ihre Eltern wenig Zeit für sie hätten. Unsere Haltung war klar. Für Normen und Werte sind in erster Linie die Eltern zuständig, nicht die Peers. Übrigens kaufte der erwähnte Sohn ein paar Jahre später all seine Kleider in der Fundgrube der SBB; manche Probleme lösen sich also mit Gelassenheit von alleine …
Rochelle Allebes, 64, ist ausgebildete klinische Sozialarbeiterin und systemische Therapeutin. Die gebürtige Niederländerin arbeitete 22 Jahre als Beraterin beim «Elternnotruf». Jetzt ist sie in eigener Praxis als Paar- und Familientherapeutin und Supervisorin tätig. Sie ist Mutter zweier Söhne, 27 und 23.