Erziehung und Familie – 24 Fragen und Antworten - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Erziehung und Familie – 24 Fragen und Antworten

Lesedauer: 13 Minuten

Wie geht Erziehung? Was ist das richtige Rezept? Wie viel Sorge ist angebracht, wie viel Vertrauen nötig? Wir haben namhaften Expertinnen und Experten die wichtigsten 100 Fragen zum Elternsein gestellt. Entstanden ist das umfangreichste Dossier in der Geschichte des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi: 100 Fragen – 100 Antworten.

Mit der Juni-Ausgabe ist das umfangreichste Dossier in der Geschichte des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi entstanden: 29 namhafte Expertinnen und Experten – Jesper Juul Fabian Grolimund, Margrit Stamm, Philipp Ramming, Allan Guggenbühl, Eveline Hipeli und viele mehr – beantworten die 100 wichtigsten Fragen zur Erziehung und zum Familienleben.

Als kleinen Vorgeschmack, lesen Sie nun die Fragen und Antworten 1 bis 24 aus dem Dossier: von Fehlern über Belohnen bis Zimmer aufräumen. Das komplette Heft können Sie als Einzelausgabe hier bestellen. 

1. Wann kann ich als Mutter oder Vater sagen: Meine Erziehung ist geglückt?

Hoffentlich nie! Wenn eine Erziehung glückt, ist das schön für die Eltern, aber schlecht für die Kinder, denn diese müssen zwingend Autonomie entwickeln können, statt den Traum ihrer Eltern wahr zu machen. Erziehung ist nicht der Ausdruck der Verfügungsgewalt von Eltern über das Kind, sondern ein leitendes Angebot von Eltern für ihre Kinder. Man darf nicht vergessen: Erziehung ist Scheitern in Raten. Aber scheitern Sie mit Würde und Eleganz.
 
Philipp Ramming, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie FSP sowie Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder und Jugendpsychologie

2. Was können Eltern tun, damit ihr Kind in Situationen besteht, in denen es beleidigt oder geringgeschätzt wird?

Am besten ist es, das Kind zu einer selbständigen und selbstbewussten kleinen Person zu erziehen, die vielleicht auch mal sagt, dass ihr egal ist, was die anderen denken. Je mehr Selbstbewusstsein und Unterstützung ein Kind von zu Hause bekommt, desto besser kann es mit solchen Situationen umgehen. Das heisst: Das eigene Kind lieben, bedingungslos. Punkt. Eigentlich ganz einfach.
 
Moritz Daum, Professor für Entwicklungspsychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich

«Wenn die Eltern alles mit derKarte bezahlen, können die Kinder kein Gefühl dafür entwickeln, dass Geld endlich ist.»

Natascha Wegelin, Unternehmerin

3. Wie bringen Eltern ihren Kindern bei, ihr Zimmer aufzuräumen?

Ob und wie ein Kind sein eigenes Zimmer in Ordnung hält, hat mehr mit dem Charakter des Kindes zu tun als mit der Erziehung der Eltern. Es gibt junge Menschen, die von klein auf ein aufgeräumtes Zimmer haben möchten und sich anders gar nicht wohlfühlen. Andere Kinderzimmer hingegen versinken buchstäblich im Chaos und deren Bewohner haben damit kein Problem – ein Zustand übrigens, der im Jugendalter etwas häufiger um sich greift, aber tatsächlich nicht für alle gilt. Ich empfehle Eltern, sich nicht um die Zimmerordnung zu streiten, vor allem nicht mit Jugendlichen. Wenn der Teenager nicht will, dass man seine Privatsphäre mit Aufräumaktionen stört, sollte er dafür sorgen, selber ein Mindestmass an Ordnung zu halten. Wenigstens einmal im Monat.
 
Sarah Zanoni, Pädagogische Psychologin

4. Soll man mit seinen Kindern weniger diskutieren und sich stattdessen öfter durchsetzen?

Wenn Sie etwas abmachen, müssen Sie es durchsetzen und dem Kind helfen, sich an die Abmachung zu halten. Erziehen ist kein Wohlfühl-Spa, sondern harte Arbeit. Als Eltern muss man aus der Komfortzone hinausgehen können. Dazu gehört auch, sich der autonomen Meinung des Kindes zu stellen. Weil wir aber in einer Welt leben, die uns manchmal orientierungslos macht, neigen viele Eltern dazu, die Beziehung zu ihren Kindern nicht aufs Spiel zu setzen. Das führt dazu, dass man eher verhandelt als fordert. In einem Konflikt muss Empathie aber zurückgestellt werden. Warum müssen Verhandlungen schmusig sein? Was zählt, ist das Ergebnis, nicht der Applaus, den Sie ernten.
 
Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe

5.  Belohnen sei das neue Bestrafen, hört man. Stimmt das?

Belohnungen können sparsam und richtig eingesetzt durchaus sinnvoll sein. Sie sind sinnvoll, wenn sie nicht nach komplizierten Punkteplänen, sondern einfach zu verteilen sind und nur für zusätzlichen Aufwand vergeben werden, beispielsweise für eine Zusatzaufgabe, und nicht für Pflichten, beispielsweise die Hausaufgaben. Belohnungen sind dann nützlich, wenn sie sofort auf das erwünschte Verhalten erfolgen, für das Kind wirklich attraktiv sind, ihre Vergabe einfach wieder eingestellt werden kann und sie beispielsweise nach und nach durch andere Belohnungen in Form von Anerkennung, gemeinsamer Zeit und Freude über Fortschritte abgelöst werden.
 
Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler, Psychologen und Leiter der Akademie für Lerncoaching in Zürich

6. Wie verhindern Eltern, dass sie ihre Kinder geschlechterstereotyp erziehen?

Unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen geschieht oft ganz unbewusst. Mädchen werden häufiger zum Basteln oder Vorlesen animiert, Jungs eher dazu, zu toben oder technische Spiele zu spielen. Und da zum Beispiel angenommen wird, dass Mädchen insgesamt mehr reden als Buben, wird bereits ganz früh mit einem weiblichen Säugling mehr gesprochen als mit einem männlichen. Für die Erziehung bedeutet dies: Man sollte Stereotypen, die man mit sich rumträgt, nicht unreflektiert weitergeben. Man kann sie auch mit den Kindern zusammen diskutieren und infrage stellen.

Moritz Daum, Entwicklungspsychologe

7. Wie bringt man dem Nachwuchs bei, bei Tisch nicht zu rülpsen, zu schmatzen oder die Ellbogen aufzustützen?

Kinder haben ein Recht auf Erziehung, die sie nicht einengt, aber ihnen ermöglicht, ihren weiteren sozialen Weg ohne Schaden zu gehen. Zunächst einmal sollten Eltern selbst gute Vorbilder sein: Ein Vater, der seinen Sohn mit vollem Mund anschnauzt, er solle sich ordentlich hinsetzen, ist doch eine Lachnummer. Eltern können mit ihren Söhnen und Töchtern aushandeln, wie es bei Tisch zugehen soll. Und ihnen ruhig sagen, dass sie sich Sorgen machen, dass andere später mal nicht gerne mit ihnen essen werden, wenn sie die grundlegenden Verhaltensweisen nicht gelernt haben. 

Wenn Eltern mit ihren Kindern gemeinsam Spielregeln aufstellen, werden sie viel eher befolgt. Mütter und Väter sollten zwar nicht die Tischregeln lockern, aber sich selbst ein wenig entspannen. Wenn sie die Situation nicht so bierernst nehmen, kommen sie auch auf ganz einfache Spielchen, mit denen Kinder Benimm beim Essen lernen. Kleine Reime helfen zum Beispiel weiter, wenn das Kind beim Essen immer die Arme abspreizt: «Ellenbogen, Ellenbogen, sei doch nicht so ungezogen!» Dann benimmt sich der Ellenbogen daneben und wird getadelt und nicht das Kind, das dann als «Bestimmer» seinen Ellenbogen wieder zurechtrücken kann.

 
Elisabeth Bonneau, ehemalige Gymnasiallehrerin und Autorin von Knigge-Handbüchern

8. Wie erziehe ich mein Kind zu einem rücksichtsvollen und emphatischen Menschen?

Indem Sie genau das vorleben. Kinder schauen sich Verhaltensweisen ab, also kommt es darauf an, was vorgelebt wird. Werteentwicklung ist immer Wertevermittlung und gelebtes Leben.
 
Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe Moritz Daum, Entwicklungspsychologe

9. Wie sage ich der Freundin, dass ihre Erziehungsmethoden nichts taugen?

Das kommt auf die Situation an. Ist man genervt, weil das Kind der Freundin zu Besuch ist und sich unmöglich aufführt, sie aber nicht eingreift, kann man vielleicht sagen: «Ich weiss, dass du das Beste möchtest, aber wenn du den Konflikt nicht selber wagst, wird das Kind Konflikte mit anderen haben, und diese sind weniger gut kontrollierbar.» Sich in fremde Erziehungsmethoden einzumischen, ist aber immer heikel. In öffentlichen Verkehrsmitteln beispielsweise wechselt man besser das Abteil, wenn ein Kind plärrt oder zu laut ist. Da lohnt es sich kaum, die Welt retten zu wollen. Gefährdet das Kind jedoch sich selbst oder andere durch sein Verhalten, muss man einschreiten.
 
Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe

10. Wie wichtig ist meine Intuition als Mutter oder Vater?

Intuition ist ein Ausgangspunkt für Handlungen. Mit Intuition allein kommt man allerdings nicht weit: Man muss sie in Worte fassen und mit Fakten ergänzen.
 
Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe

11. Was können Eltern tun, wenn das Kind zu Hause nichts mehr erzählt?

Da empfehle ich zwei Dinge. Erstens: Sie erzählen von sich. Das Kind soll im Gespräch selbst die Initiative ergreifen können. Erzählen Sie beispielsweise beim Ins-Bett-Bringen von Ihrem eigenen Tag, anstatt nach den Erlebnissen Ihres Kindes zu fragen. Ihr Sohn oder Ihre Tochter wird von alleine beginnen zu berichten. Zweitens: Haben Sie keine Angst vor der Stille. Nicht jeder Augenblick muss mit Kommunikation und Aktion gefüllt sein, Pausen sind gut für die Atmosphäre.

Fürchten Sie also weder Pausen noch «leere Zeit» – beides ist gut für die Entwicklung einer persönlichen Beziehung. Statistisch gesehen dienen nur etwa 30 Prozent von dem, was Eltern zu Kindern sagen, dem Kindeswohl. Die anderen 70 Prozent dienen dem eigenen Selbstbild als Mutter beziehungsweise Vater. Dieses egozentrierte Verhalten ist bis zu einem gewissen Grad in Ordnung. Man muss sich einfach bewusst sein, dass es Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen gibt, und darf nicht enttäuscht sein, wenn Kinder dann nicht so reagieren, als wäre alles, was wir ihnen zu geben versuchen, aus purem Gold. Oder anders gesagt: Kinder sollen auch mal ungehorsam sein dürfen. Das ist normal – in allen Ländern und Kulturen der Welt.

 
Jesper Juul, dänischer Familientherapeut und Bestsellerautor

12. Familientherapeuten raten gerne zu mehr Gelassenheit. Wie schaffen Eltern das?

Indem sie sich so annehmen, wie sie sind, mit allen Ecken und Kanten. Fehler machen ist erlaubt. Kindern schaden diese Fehler nicht, solange die Eltern dafür die Verantwortung übernehmen. Das ist aber einfacher gesagt als getan – weil unsere Gesellschaft so aufgebaut ist, dass Fehler machen unerwünscht ist. Eine Person, die ein gesundes Selbstwertgefühl hat, kann viel gelassener mit herausfordernden Situationen im Leben umgehen. Leider wird diesem Selbstwertgefühl in unserer Gesellschaft
nicht viel Sorge getragen.
 
Caroline Märki, Elterncoach und Familienberaterin bei FamilyLab

«Einen Geschwisterstreit fairzu schlichten, ist oft unmöglich. Wichtiger ist es, ihn angemessen zu beenden.»

Sarah Zanoni, Pädagogische Psychologin

13. Wie spricht man mit seinen Kindern über die Not und das Elend auf der Welt?

Kinder bekommen heute schon sehr früh viel vom Weltgeschehen mit – über digitale Geräte, über Zeitungen, Radio oder Fernsehen. Dabei erfahren sie oft mehr, als gut für sie ist. Verhindern kann man das als Eltern kaum. Eltern sollten sich aber dafür interessieren, was ihr Kind umtreibt, und nachfragen. Kinder brauchen Begleitung, oft auch erklärende Hinweise von Papa oder Mama, damit sie verstehen, was sie sehen oder hören. Viele Themen wie Tierquälerei, Krieg, Krankheit oder Armut sind gerade für jüngere Kinder emotional schwer zu verdauen.

Ebenso wichtig ist es, die individuelle Sensibilität des Kindes zu berücksichtigen. Was für das eine Kind problemlos verdaubar ist, kann bei einem anderen Angst auslösen. Manche Kinder geben sich betont cool und ungerührt angesichts des Elends und Schreckens in der Welt – dies kann aber auch ein psychischer Schutz sein. Kinder zeigen sich oft betroffener, wenn etwas Schlimmes auch sie selbst betreffen könnte, wie zum Beispiel Naturkatastrophen, ein Brand oder ein Einbruch.

 
Sarah Zanoni, Pädagogische Psychologin

14. Wie können Eltern mit den Kindern über Gott reden, wenn sie nicht religiös sind?

Eltern können durchaus über Gott reden und gleichzeitig dazu stehen, dass sie sich nicht sicher sind, ob es ihn wirklich gibt. Je offener Eltern sich dieser Thematik stellen, desto freier kann sich ihr Kind eine eigene Meinung bilden und sich für seinen eigenen Glauben entscheiden. Meist wird das Kind den Glauben oder Nichtglauben seiner Eltern übernehmen. Dennoch sollte es die Möglichkeit haben, selber zu entscheiden, wie es über Gott denkt. Dafür sollte es auch die Erfahrung machen können, einen Gottesdienst zu besuchen oder zu beten.

Irgendwann wird es die Eltern auch mit Fragen über den Tod und das, was danach ist oder sein könnte, konfrontieren. Statt gleich die eigene Meinung preiszugeben, könnten Eltern ihre Kinder erst einmal nach deren Vorstellungen fragen. Erwachsene sind oft überrascht, welche philosophischen Gespräche sich daraus ergeben können. Grundsätzlich ist die Diskussionslust bei Kindern und Jugendlichen sehr gross, wenn es um diese Themen geht – sie sind sehr offen, interessiert und auch kritisch. Kinder gehen die Sache oft sehr viel spielerischer und entspannter an als Erwachsene und haben es deshalb verdient, dass wir uns mit ihnen darüber auseinandersetzen.

 
Sarah Zanoni, Pädagogische Psychologin

15. Wie lernen Kinder den Umgang mit Geld?

Indem sie Sackgeld bekommen, und zwar in bar. Viele Kinder kommen kaum noch mit Bargeld in Berührung. Sie sehen, dass die Eltern alles mit Karte oder mit Paypal bezahlen, und können so kein Gefühl dafür entwickeln, dass Geld endlich ist und man für grössere Investitionen sparen muss. Wenn Kinder ihr Sparziel erreicht haben, schlage ich vor, dass sie das Sparschwein physisch zur Bank bringen oder das Gewünschte bar bezahlen – nur so entsteht wirklich eine Verbindung im Kopf.
 
Natascha Wegelin, Unternehmerin und Bloggerin

16. Wie ist Erziehung ohne Streit möglich?

Gar nicht. Denn Kinder brauchen Konflikte. Das ist anstrengend und kann auch verletzend sein – aber es wäre ein Fehler, als Eltern Konflikte vermeiden zu wollen. Viele Eltern sind gefangen in einem Harmonieanspruch. Wir sind unseren Kindern einen Streit schuldig, selbst wenn sie uns dann ein «Ich hasse dich!» an den Kopf werfen. Das gilt es auszuhalten und sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Der hormonelle Sturm wird sich wieder legen.
 
René Borbonus, Redner, Rhetorik und Kommunikationstrainer

17. Sollen Eltern ihren Kindern Spielzeugwaffen verbieten?

Mein Sohn war als Kind sehr an Waffen interessiert, aber ich hatte sie ihm verboten, weil ich damals sehr friedensbewegt war. Da fing er an, alles zu einer Waffe umzubauen, was ihm in die Finger kam, und ich erkannte, wie sinnlos mein Verbot war. Heute ist er Arzt und kein bisschen aggressiv. Spielt ein Kind gerne mit Laserpistolen oder Waffen, sollte man sich fragen, woher dieses Interesse rührt. In der Regel verbirgt sich dahinter das Bedürfnis, respektiert und beachtet zu werden. Ein Kind, das sich bewaffnet, möchte sich einen Kopf grösser machen.
 
André Zimpel, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg 

18. Müssen sich Eltern in der Erziehung immer einig sein?

Nein, überhaupt nicht. Aber man muss eine Routine entwickeln, wie man mit Unterschieden umgeht. Idealerweise definiert man die Gebiete in der Erziehung, in denen man selbst die Führung übernimmt, und diejenigen, in denen der andere Elternteil das tut.
 
Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe

19. Wie stark müssen Eltern ihren Kindern Grenzen setzen?

Grenzen setzen ist zentral in der Erziehung und gehört zum Job der Eltern. Man muss es aushalten, dass ein Kind gegen die elterlichen Grenzen rebelliert, frustriert ist und seine Unlust an den Eltern auslässt. Verfügt man über diese Fähigkeit, benötigt man auch nicht das tausendste Ratgeberbuch zur Erziehung. Wichtig bei der Grenzsetzung ist allerdings eine gewisse Flexibilität – man sollte Grenzen nicht stur nach Excel-Tabelle festlegen.
 
Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe

«Das Üben ist in manchen Familien ein Streitthema wie die Hausaufgaben.» 

Sibylle Dubs, Musikpädagogin in Zürich

20. Wie bringe ich mein Kind dazu, dass es sein Musikinstrument übt?

Das Üben ist in manchen Familien ein Streitthema wie die Hausaufgaben. Während Letztere von der Schule vorgeschrieben sind, hat das Üben eines Instruments eine Schuld-Komponente: «Du wolltest doch Harfe spielen!», «Weisst du, was die Miete des Klaviers kostet?», «Wir haben ein halbes Jahr Klarinettenunterricht bezahlt, jetzt halte so lange durch!». Von solchen Sätzen ist nicht viel zu halten. Sie zementieren die Ansicht, dass ein Instrument zu spielen etwas für besonders pflichtbewusste oder hochbegabte Kinder sei. Eltern sollten sich fragen: Warum soll unser Kind ein Instrument lernen?

Um Musik zu leben und zu erleben, wäre die Antwort der elementaren Musikpädagogik. Um dem Kind die Möglichkeit zu geben, aus sich selbst heraus künstlerisch tätig zu werden. Wie wird also aus dem täglichen Üben Musik? Indem die Eltern selber diese Haltung einnehmen und das Kind unterstützen. Eltern sollten ihren musizierenden Kindern aktiv zuhören. Töne, und seien sie noch so wacklig und ungenau, werden zu Musik, wenn ihnen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dadurch lauschen die Kinder selber von Beginn weg ihrem Spiel, welches einen ganz anderen Wert erhält. Befolgen Sie drei Maximen. Erstens: Setzen Sie sich zum Üben zu Ihrem Kind. Zweitens: Seien Sie ehrlich zum Kind. Drittens: Reduzieren Sie in Krisen Dauer und Inhalt beim Üben. Und: Das Üben muss nicht ausschliesslich mit dem Instrument stattfinden. Schauen Sie sich zusammen das Notenheft auf dem Sofa an, reden Sie über die Namen der Stücke.

Sibylle Dubs, Musikpädagogin in Zürich

21. Sollen Eltern einschreiten, wenn die Geschwister unablässig streiten?

Geschwister streiten im Schnitt alle 20 Minuten. Gründe gibt es viele, etwa Eifersucht, die Angst, benachteiligt zu werden oder etwas zu verlieren, beispielsweise die Zuwendung der Eltern. Daneben spielen Temperament, Besitzverhältnisse zwischen den Kindern, die Position in der Familie und die Frustrationstoleranz eine grosse Rolle. Einschreiten sollten Eltern, wenn die Kräfteverhältnisse stark auseinandergehen und eines der Kinder ernsthaft physisch oder psychisch verletzt werden könnte. Einen Streit fair zu schlichten, ist oft unmöglich, da man ja als Elternteil nicht alles mitbekommen hat.

Wichtiger ist, den Streit angemessen zu beenden. Grundsätzlich lohnt es sich, mit den Kindern Lösungen zu üben und die Kritik so zu formulieren, dass die andere Person nicht in ihrer Integrität verletzt wird: Spielzeug tauschen statt wegnehmen oder eine Spielzeugkiste einrichten, die Dinge für beide enthält. Daneben darf jedes Kind eigene Dinge haben, die es nicht teilen muss. Streiten ist ein wahres Lernfeld, weil Kinder dabei lernen, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und anzumelden, mit Frust umzugehen und Lösungen zu finden – alles Kompetenzen, die man auch in Schule, Beruf und Partnerschaft braucht. Kindern das Streiten zu verunmöglichen hiesse, sie den Umgang mit Konflikten nicht lernen zu lassen. Oder lassen Sie Ihr Kind niemals mit Schere und Messer hantieren, nur weil es sich verletzen könnte?

 
Sarah Zanoni, Pädagogische Psychologin

22. Welches ist der häufigste Erziehungsfehler?

Dass die Eltern die Kinder und deren Bedürfnisse aus den Augen verlieren. Ein Beispiel: Beide Eltern müssen morgens zur Arbeit, die Kinder müssen in die Krippe, in den Hort oder in die Schule. Also müssen alle frühstücken, Zähne putzen und rechtzeitig angezogen sein. Je nachdem, wie schnell das geschieht, gibt es Probleme mit den Kindern: Sie trödeln herum, weigern sich zu kooperieren oder schreien herum. Eigentlich geht es darum, dass die Kinder sich dem hohen Funktionsrhythmus der Familie verweigern, weil sie frühmorgens mehr Zeit brauchen. Dass die Eltern nicht über Veränderungen an diesem System nachdenken, erzeugt bei den Kindern Angst und Ohnmacht, denn es bedeutet, dass die Eltern das Problem nicht wahrnehmen. Also schreien die Kinder herum.
 
Philipp Ramming, Kinder- und Jugendpsychologe

23. Die Kunst in der Erziehung sei, so heisst es, das Verhalten des Kindes nicht persönlich zu nehmen. Wie schafft man das?

Betitelt das Kind oder der Teenager Vater oder Mutter mit Schimpfworten, ist das grundsätzlich nicht okay. Eltern sollten das dem Kind auch ruhig und unmissverständlich sagen. Das bedingt aber, dass wir mit gutem Vorbild vorangehen und uns nicht zum gleichen Verhalten hinreissen lassen. Schimpftiraden sind immer auch ein Vertrauensbeweis Ihres Kindes, so paradox dies klingen mag. Ein Wutausbruch des Kindes bedeutet, dass es intuitiv weiss, dass Sie ihm wegen seiner verbalen Attacke nicht die Liebe kündigen werden.

Zum Vergleich: Stellen Sie sich vor, Sie kommen abends müde und verärgert von der Arbeit nach Hause. Nun lassen Sie Ihre schlechte Stimmung an Ihrer Partnerin, Ihrem Partner aus. Kurze Zeit später klingelt es an der Tür: Es ist ein Bekannter von Ihnen. Bestimmt werden Sie mit dieser Person freundlich oder zumindest höflich umgehen. Dass Sie Ihren Ärger nur an Ihrem Mann oder Ihrer Frau ausgelassen und Ihre wahren Gefühle gezeigt haben, war eben nur möglich, weil Sie auf die Liebe Ihres Partners zählen können. Das ist beim eigenen Kind genau gleich. Haben Sie einen Teenager zu Hause, kommt hinzu, dass sein Gehirn gerade einen Entwicklungsprozess durchläuft. Das heisst: Sein Sozialverhalten macht grad Pause. Ihr Teenager kann also nichts dafür, dass er ziemlich egoistisch und wenig einfühlend unterwegs ist. Haben Sie also bitte Geduld!
 
Sarah Zanoni, Pädagogische Psychologin

24. Wie viel Erziehung brauchen Kinder?

Kinder brauchen keine Erziehung. Sie werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten. Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv. Kinder brauchen Rückenwind von ihren Eltern – so sagt man es in Dänemark. Es bedeutet: eine liebevolle Begleitung, kein Zurechtweisen. Kinder brauchen so viel Selbstwertgefühl wie möglich. Das ist das
Allerwichtigste.
 
Jesper Juul, Familientherapeut


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