Was nehmen wir mit aus der Corona-Krise?
Bild: RawPixel / zVg
Die ersten Lockerungen nach dem Lockdown werden gerade sanft eingeführt, doch das Corona-Virus wird uns noch länger begleiten und unser Leben beeinflussen. Wir haben uns in Redaktion und Verlag umgehört, welche neuen Angewohnheiten oder Rituale wir lieb gewonnen haben und auch weiterhin pflegen wollen.
Nik Niethammer, Chefredaktor. Sohn 10, Tochter 8 Jahre alt.
- Bücher vorlesen
«Es ist ein Verbrechen, Kindern nicht vorzulesen», sagt die deutsche Schauspielerin Anna Thalbach. Etwas weniger radikal formuliert: Vorlesen ist enorm wichtig. Denn die Zeit, die man beim Vorlesen mit den Kindern verbringt, ist eine ganz besondere. Ich bin kein begnadeter Vorleser, aber Corona-bedingt besser geworden. Weil: Übung macht bekanntlich … Sie wissen schon. Mein Corona-Lieblings-Vorlesebuch ist übrigens Robinson Crusoe, ein Experte im Umgang mit Isolation und Einsamkeit. (Lese-Tipp: Weitere Lieblingsbücher zum Vorlesen von Nik Niethammer und anderen Mitgliedern aus Redaktion Verlag) - Kindernachrichten schauen
Können sich auch Haustiere mit dem Virus infizieren? Warum müssen Menschen zueinander Abstand halten? Und was macht eigentlich ein Virologe? Antworten auf diese und viele andere Fragen liefern die «Logo»-Kindernachrichten. Täglich um 19 Uhr 50. In Corona-Zeiten ist die Redaktion zur Höchstform aufgelaufen; die Moderation ist wunderbar entspannt und unaufgeregt, die Beiträge sachlich und informativ – auch für Erwachsene. Für meine Kinder und mich ist die Sendung längst zum täglichen Ritual geworden. - «Zoomen»
Ich war kein Freund von Videokonferenzen – bis Corona kam. Jetzt nutze ich Skype und Zoom mehrmals täglich, um mich auszutauschen. Ich freue mich jeden Morgen auf das Wiedersehen mit den Kolleginnen und Kollegen, studiere ihre immer gewagteren Frisuren und stelle fest: die Verluderungstendez nimmt mit Dauer der Krise zu – dasselbe T-Shirt seit zwei Wochen, dieselbe vertrocknete Zimmerpflanze auf dem Fenstersims. Im Ernst: ich finde diese Form der Kommunikation ebenso praktisch wie reizvoll und werde, wenn der Spuk einmal vorbei ist, Zoom und Co. gerne weiter nutzen. - Alte Filme schauen
Unsere Kinder lieben die Abenteuer von Pippi Langstrupf. Seit Corona kennen sie auch einige der weniger bekannten Stücke von Astrid Lindgren wie «Rasmus und der Vagabund», «Karlsson vom Dach» oder «Kalle Blomquist». Wunderbare Geschichten, liebevoll erzählt. Es sind kleine Meisterwerke, wie aus der Zeit gefallen: langsame Schnitte, in schwarz-weiss gedreht, mit knarrigem Ton. DVD sei Dank! - Projekte stemmen
Ohne Zweifel ist Corona ein Stresstest für Familien, insbesondere mit schulpflichtigen Kindern. Gleichzeitig setzt staatlich verordnetes Runterfahren ungeahnte Kräfte frei. Zumindest bei mir ist es so. Über die Ostertage habe ich mit meinem Sohn den Keller im Haus der Schwiegermutter um- und ausgebaut, wir haben gesägt, gezimmert und geschraubt als gäbs keinen Morgen. Als nächstes leg ich im Garten einen Kartoffelacker an. Und wenn das nichts wird, gibt’s halt ein Plantschbecken für die Kinder.
Andrea Widmer, Fundraising. Zwei Töchter, 8 und 6 Jahre alt.
Aber was – wenn ich es richtig gemacht habe – wirklich lange bleibt, ist mein Sauerteig: War ich in der Anfangsphase noch verzweifelt, dass es wohl nie was werden wird, bin ich mittlerweilen stolze Besitzerin von vier «selbstgezüchteten» Sauerteigs- beziehungsweise Lievito-Madre-Ansätzen. Was heisst, dass wir nun viel mehr Brot essen als früher. Und wenn ich die Sauerteige auch richtig hege und pflege, dann sollten sie mir bis an mein Lebensende bleiben und werden mich immer an diese Zeit zurückerinnern.
Hanna Lauer, Onlineredaktorin
Jacqueline Zygmont, Sales-Managerin, ein erwachsener Sohn
Auf der einen Seite vermisse ich den persönlichen Kontakt mit den Menschen, welche mir nahe stehen, zum Beispiel meine Eltern, die ich seit längerer Zeit nicht mehr gesehen habe, insbesondere meinen Vater, der zur Risikogruppe gehört. Natürlich fehlen mir die gemütlichen Restaurant-Besuche, vor allem bei so tollem Wetter der letzten Tage.
Auf der anderen Seite finde ich diese Entschleunigung sehr schön. Mir ist bewusst geworden, dass ich in der Zeit vor Corona sehr oft gehetzt durch das Leben gegangen bin. Mein Terminkalender musste schon gut gefüllt sein, damit ich glücklich war. Das ist jetzt nicht mehr so … vielmehr geniesse ich die Momente eines Spazierganges mit einer Freundin intensiver und bewusster. Das Sein im Hier und Jetzt gewinnt wieder an Bedeutung. Selbst das Pflücken eines Tulpenstrausses auf einem Feld, damit es Blumen im Home Office hat, hat mir einen wertvollen Moment beschert.
Darum möchte ich dieses Gefühl der Entschleunigung unbedingt weiter tragen und die schönen Momente des Lebens wieder viel mehr schätzen lernen.
Florina Schwander, Leitung Onlineredaktion. Eine Tochter, bald 6, und Zwillingsjungs, 4 Jahre alt.
Wir waren Mitte März nach einer Woche Ferien ins kalte Corona-Wasser geworfen worden und mir passte der neue Alltag gar nicht. Der Anlauf im stressigen Home Office kombiniert mit wenig familiärem Auslauf, minimalem Fernunterricht, Sorge vor der unbekannten Situation und Reduktion auf die Kernfamilie war harzig. Doch mein zweiter Vorname ist Pragma-Mama und so passten wir uns an. Wir brachten unseren Balkon auf Vordermann, nahmen wo immer möglich Druck raus, beobachteten draussen Kaulquappen und ja, ich buk auch die eine oder andere beeindruckende «Züpfe».
Ich bewundere, wie wissbegierig sie sind und ich ihnen als Gutenachtgeschichte alle Viren aufzählen muss, die ich kenne. (Help, please!) Ich bin stolz auf unseren Seifenverbrauch und freue mich, wenn ich unseren Behälter wieder neu auffüllen kann. Ich amüsiere mich beim Mithören ihrer Telefongespräche, wenn sie mit der Oma oder ihren Gotten und Göttis telefonieren und denen erklären, dass Mama grad in einem Kohl war, ah, ein Call!, und Papa oben im Schlafzimmer, ah, am Schreibtisch.
Definitiv mitnehmen in die nächsten Wochen werden wir zwei Errungenschaften: Meine Kinder können neu die Titelmelodie von Paw Patrol auswendig. Auf deutsch und französisch. Und ich habe mir eine neue Kaffeemaschine bestellt.
Dominique Binder, Verlagsadministration
Nun sind sechs Wochen vergangen. Ich habe meinen Alltag ziemlich verändert und bin positiv überrascht, was diese Zeit mit mir macht oder gemacht hat. Durch das Home Office bin ich so frei, dass ich den Arbeitstag jeweils früh beginne und so im Laufe des Nachmittages etwas mehr Freizeit habe. Das Wort sagt es schon: Freie Zeit. Ich geniesse das total. Ich kann mich um mich, um mein schönes Daheim, meinen tollen Garten kümmern. Ich habe mit Tagebücher schreiben begonnen, habe die Wohnung ausgemistet und neu dekoriert, lese viel. Der Garten wird frühlingstauglich gemacht. Und jeder, der einen Garten besitzt, weiss, was da alles zu tun ist; man ist nie fertig.
In meinen Tagesablauf gehört neu, täglich mindestens eine Stunde mit meiner lieben Nachbarin spazieren zu gehen. Ich wusste schon immer, dass ich hier an einem tollen Ort lebe, aber ich schätze es nun noch mehr; ich habe noch mehr Zeit, schöne Spazierwege zu entdecken.
Die Corona-Zeit hat mich sehr verändert; ich lernte mich besser kennen, lernte schätzen, was ich alles habe, und dass mehr Zeit für sich selbst ein absoluter Luxus ist.
Ich hoffe, dass dieses Gefühl in mir auch nach der Krise noch lange anhält. Ich versuche, meine tägliche Spazierrunde auf jeden Fall beizubehalten und auch genügend Me-Time einzuplanen; so könnte das gut klappen, im normalen Alltag wieder.
Claudia Landolt, leitende Autorin. Vier Kinder zwischen 8 und 15 Jahren.
Ich bin ja mit viel Energie und Ausdauer gesegnet, Typ: Energiebündel. Ich blühe auf, wenns schwierig ist, organisiere, packe an, mache 30 verschiedene Sachen gleichzeitig und weiss bereits heute, was es in 17 Tagen zum Dessert geben wird.
So war der Anfangs des Lockdown ganz mein Ding: Wer von uns sechs Familienmitgliedern hat welche Telefonkonferenzen um welche Uhrzeit? Wer arbeitet an welchem Arbeitsplatz? Wo braucht es noch einen Bildschirm, einen Adapter, ein Übergangsstück? Wer kocht, putzt, macht die Wäsche, geht Gassi mit dem Hund? Ich schmiss mich einem Übersichtsplan an die Brust, er rief nach meinem klaren Geist (ha!). Doch: In diesen Ausnahmezeiten mit sechs Familienmitgliedern kann es keine funktionierenden Pläne geben. Jeder Tag ist anders, als es Mastermind-Mutti grandios geplant hat. Eine Stundenplanänderung, bis 8 Uhr 30 Blätter mit Aufgaben ausdrucken, eine Notfallsitzung des Mannes, ein dringliches Mail an mich, das WLAN, das spukte, streitende Geschwister, ein störrischer Drucker, ein digital überfordertes Kind.
Ohmm – maximale Flexibilität war und ist erforderlich. Nach drei Wochen spürte ich, wie die Energie schwand. Es gab den einen oder anderen Tag mit Lagerkoller, Frust und Tränen. Sie hielten maximal einen Tag an. Weshalb? Mein Mindset rettet mich. Was ich damit meine? Äussere Umstände kann ich nicht kontrollieren, aber ich kann steuern, wie ich darauf reagiere. Jeder Moment des Lebens ist eine Entscheidung, die ich treffe. Bin ich gefrustet? Ok, dann lasse ich dieses Gefühl raus. Bin ich wütend auf meine chaotischen und öfters die Hausarbeit ignorierenden Kinder, die übelriechende Wäscheberge und die obsolet gewordenen Medienregeln? Ok. Ich lass es raus. Aber spätestens nach 24 Stunden Frust programmiere ich mich um und gebe wieder mein Bestes. Es ist möglich, ich schwörs. Corona hat es mir gezeigt.
Für mein Mindset entscheidend ist Disziplin. Nicht Disziplin, die es zur Arbeits-, Alltags- oder Freizeitbewältigung braucht, sondern eigene Disziplin und Eigenverantwortung für mein Wohlbefinden. Seit Tag 1 des Lockdowns stehe ich jeden Tag, auch am Wochenende um 6 Uhr 15 auf, geniesse die Ruhe, weil alle noch schlafen, trinke einen Tee, dusche eiskalt und mache 45 Minuten schweisstreibendes Poweryoga, zu Beginn gleich 8 Minuten Cardiotraining zu lauter Musik. Am Schluss eine Mini-Meditation. Innehalten, wann, wenn nicht jetzt? Danach bin ich fit für den Tag, gehe kurz mit unserem Hundi Gassi, mache Frühstück und küsse meine Liebsten. Ich übe stets das gleiche Set und merke, wie ich jeden Tag stärker werde, kraftvoller, äusserlich wie innerlich. Im Yoga nennt man dies Sadhana, eine spirituelle Disziplin, um zu einem höheren Ziel zu gelangen, beispielsweise zu einer inneren Freiheit ungeachtet der äusseren Umstände. Meine Morgenpraxis war in 25 Jahren Yogaerfahrung noch nie so diszipliniert, konsequent und saftig wie jetzt. 90 Tage sind das Ziel. So lange braucht es, bis eine Routine zum Teil des Lebens wird.
Corona hat uns so viel Zeit mit unseren Kindern beschert wie noch nie. Seit aus meinen vier Babys Schulkinder wurden, haben wir ausser in den Ferien nie mehr so viel Zeit am Stück zusammen verbracht wie jetzt. Nicht nur fallen die langen Schultage mit ganz unterschiedlichen Unterrichtszeiten weg, sondern auch die vielen damit verbundenen Termine, Sporttrainings, Musikschule, Taxidienste, Pfadi, Schachklub, Schwimmkurse – alles überflüssig. Natürlich bedeutet das für uns Eltern viel mehr Arbeit, allein die Essensbeschaffung und Verpflegung bei sechs stets hungrigen Leuten, die ohne drei warme Mahlzeiten pro Tag schlicht nicht funktionieren, ist eine Herausforderung (vor allem, wenn das Kind grossherzig sämtliche vorhandene Glacé im ganzen Quartier verteilt). Aber ganz ehrlich: ich geniesse es, dass permanent ein Kind um mich herumschleicht. Dass sie mich, uns jetzt ganz besonders, brauchen. Ja, wir sind uns so nah wie nie zuvor. Täglich alle am Tisch versammelt zu sehen, macht mich glücklich. Es sind historische Momente. Sogar mein ältester Sohn, ein neunmalkluger Teenager, findet es «mega cool», dass Mama und Papa so viel zuhause sind. Nicht alle haben so viel Glück wie ich.