Unseren Kindern vertrauen: So wichtig, so schwierig
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Unseren Kindern vertrauen: So wichtig, so schwierig

Lesedauer: 4 Minuten

Eltern sind ihren Kindern heute sehr nah. Das ist wertvoll. Es führt aber auch dazu, dass wir am liebsten alles tun würden, um sie vor den schwierigen Seiten des Lebens zu bewahren.

Text: Fabian Grolimund
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Manchmal spannen Eltern ein Sicherheitsnetz um ihre Kinder, das sie nicht nur vor allzu schweren Stürzen bewahrt, sondern sie in ihrer Freiheit auch einschränkt und dafür sorgt, dass ihnen wichtige Erfahrungen entgehen.

Studien zeigen seit langer Zeit, wie schädlich elterliche Überbehütung für Kinder ist: Mangelnde Selbstwirksamkeit, geringere Selbständigkeit, eine begrenzte Sozialkompetenz und Angst vor Fehlern sind die direkten Folgen, im Erwachsenenalter entwickeln diese Kinder mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Angststörungen und Depressionen.

Doch wie können wir ein gutes Gleichgewicht finden zwischen Loslassen und Schützen? Wie können wir unsere Kinder vor realen Gefahren bewahren, ohne ihren Erfahrungsraum zu stark zu beschneiden?

Ängste, die sich eher auf die Eltern beziehen

Der Wunsch, unsere Kinder zu schützen, entsteht meist aus Sorgen und Angst heraus. Man befürchtet, dass das Grundschulkind entführt wird, wenn es alleine zur Schule geht, an die falschen Freunde gerät, den Übertritt in die erhoffte Schulstufe nicht schafft oder die Jugendliche mit Drogen experimentiert oder Gewalt erfährt.

Oft sind es auch Ängste, die sich eher auf uns als Eltern beziehen: Wie stehe ich da, wenn mein Kind zu spät kommt oder die Hausaufgaben nicht dabei hat? Was sagt es über meine Kompetenz als Mutter oder Vater aus, wenn mein Sohn im Jugendtreff rumhängt?  

Die Welt unserer Kinder steckt voller Gefahren, und sie werden nur lernen, damit umzugehen, wenn sie damit in Berührung kommen.

Manche dieser Befürchtungen sind real, andere sehr unwahrscheinlich. Und wieder andere bei näherer Betrachtung unbedeutend. Eine unangenehme Wahrheit, mit der wir Eltern uns aber anfreunden müssen, ist: Die Welt unserer Kinder steckt tatsächlich voller Gefahren, und sie werden nur lernen, damit umzugehen, wenn sie altersadäquat damit in Berührung kommen. 

Altersgerechter Umgang mit Gefahren

Das beginnt schon früh: Wir erlauben dem Kleinkind, auf einen Baum zu klettern, und vertrauen darauf, dass es sich gut festhalten wird. Dabei besteht aber immer auch die Gefahr, dass es runterfällt und sich wehtut. Wenn wir solche Spiele mit etwas Risiko zulassen können, entwickelt das Kind eine höhere motorische Kompetenz, lernt besser mit seiner Angst umzugehen und gewinnt an Selbstvertrauen. 

Und auch der Vierzehnjährige wird nur dann lernen, kritische Situationen richtig einzuschätzen, zu reflektieren, ob ihm bestimmte Freundschaften oder Beziehungen guttun, ob sein Medienkonsum aus dem Ruder läuft oder ob er in der Schule mehr Verantwortung übernehmen müsste, wenn er Eltern hat, die ihm Freiräume zugestehen.

Eltern, die Fehler zulassen können, dabei aber ein Auge auf den Jugendlichen haben und mit ihm gemeinsam Erfahrungen auswerten können. Nur so kann ein heranwachsendes Kind eigene Kriterien entwickeln, die ihm Antworten geben auf Fragen wie: Woran merke ich, dass mir etwas nicht guttut? Was ist mir wichtig und wofür lohnt es sich, mich anzustrengen? Was macht eine echte Freundschaft aus? Wie setze ich Grenzen, wie hole ich mir Hilfe und wie befreie ich mich aus riskanten Situationen?

Wenn es uns nicht gelingt, diesen Erfahrungsspielraum schrittweise zu öffnen, werden sich unsere Kinder und Jugendlichen diesen irgendwann einfach nehmen – ohne darauf vorbereitet zu sein.

Vertrauen bedeutet, dass wir davon ausgehen, dass unser Kind seine Freiräume positiv gestalten will. Das kann und wird es nicht immer tun.

Vertrauen braucht Übung

Wenn wir einem Kind vertrauen, bilden wir die subjektive Überzeugung aus, dass wir uns auf sein Wort verlassen können und es gut auf sich achten wird.

Vertrauen ist aber nicht dasselbe wie Wissen. Wir können nicht davon ausgehen, dass unser Kind genau in unserem Sinne handeln wird. Das bedeutet, dass wir, wenn wir vertrauen, bewusst ein Risiko eingehen und uns verletzlich machen. Wir setzen ein Stück weit unser eigenes Wohlergehen aufs Spiel, um dem Kind oder Jugendlichen ein Lernfeld zur Verfügung zu stellen. 

Vertrauen stärkt das Selbstwertgefühl

Wie fühlt es sich an, wenn uns jemand vertraut? Uns beispielsweise eine schwierige Aufgabe überträgt? Uns zutraut, dass wir unsere Arbeit tun werden, ohne uns ständig zu kontrollieren? Wir fühlen uns fast sofort aufgewertet. Die uns übertragene Freiheit und die damit einhergehende Verantwortung stärken unser Selbstvertrauen. 

Oft hat das Kind gar nicht das Vertrauen der Eltern ausgenutzt, sondern eine Lücke in deren Kontrolle.

Gleichzeitig erhöht es die Kooperationsbereitschaft. Eine Jugendliche, die von ihren Eltern hört: «Ich lasse dich im Beisein von deinen beiden Freundinnen auf dieses Musikfestival gehen. Und ich vertraue darauf, dass ihr aufeinander achtet, zusammenbleibt und mich anruft, wenn irgendetwas ist», wird ganz anders mit dieser Freiheit umgehen als eine Gleichaltrige, die behauptet, bei einer Freundin zu übernachten, und sich heimlich auf den Event schleicht. 

Und wenn mein Vertrauen ausgenutzt wird?

Vertrauen bedeutet, dass wir davon ausgehen, dass unser Kind seine Freiräume positiv gestalten will. Das bedeutet aber nicht, dass es dies immer tun kann oder wird. Manche Eltern beklagen sich aber darüber, dass ihre Kinder «ständig ihr Vertrauen ausnutzen». Ist das der Fall, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Oft passiert das in Familien, in denen eher ein Klima des Misstrauens herrscht. 

Dann hört man von Eltern: «Mein Kind hat mich schon so oft enttäuscht» oder «Wenn man ihm den kleinen Finger gibt  …». Sieht man aber etwas näher hin, wird häufig deutlich: Das Kind hat gar nicht das Vertrauen der Eltern ausgenutzt, sondern eine Lücke in deren Kontrolle. Der Süssigkeitenschrank war ausnahmsweise nicht abgeschlossen und das Kind hat sich bedient. Die Eltern kamen ausnahmsweise etwas später nach Hause und das Kind hat heimlich ferngesehen. 

Vertrauen kann nur «ausgenutzt» werden, wenn es zuerst zur Verfügung gestellt wird. Und auch dann werden Kinder und Jugendliche natürlich immer wieder versuchen, den Freiraum etwas auszudehnen, sich da und dort von der Situation oder dem Gruppendruck mitreissen lassen oder Dinge verheimlichen, die ihnen unangenehm und peinlich sind oder die sie aus einem anderen Grund für sich behalten möchten.

So wie wir Erwachsenen da und dort ein Projekt später abgeben als angekündigt, vor dem Fernseher oder in den sozialen Medien versumpfen, obwohl wir uns geschworen haben, heute früh ins Bett zu gehen, Fehler unter den Tisch kehren oder bei einer Feier über die Stränge schlagen. 

Im Gespräch mit unseren Kindern und Jugendlichen können wir solche Situationen nutzen, um ihnen  Rückhalt zu bieten und sie für die Zukunft zu stärken. Vielleicht mit Fragen wie: Wir haben abgemacht  … Ich denke, es gibt einen guten Grund, dass du  … Was war da los? Was war schwierig für dich? Mir ist es wichtig, dass das klappt – was wäre dazu nötig, hilfreich?

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

Alle Artikel von Fabian Grolimund

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