Gruppendruck – mein Kind kann nicht Nein sagen
Eltern dürfen ihre Kinder nicht unter Druck setzen, sondern Ihnen helfen, auf ihre innere Stimme zu hören.
Mahatma Gandhi sagte einst, dass sich Glück dann einstellt, wenn das, was man denkt, sagt und tut, miteinander in Einklang steht. Genau deshalb ist es uns Eltern so wichtig, dass unsere Kinder trotz Gruppendruck und Gegenwind für sich selbst einstehen und authentisch bleiben können. Wir möchten, dass sie eigene Werte und Meinungen entwickeln, zu ihren Gefühlen stehen, Ja sagen, wenn sie Ja meinen, und Nein, wenn sie sich abgrenzen möchten.
«Es ist wichtig, dass man als Eltern bewusst wahrnimmt, wie schwierig es sein kann, zu sich zu stehen.»
Fabian Grolimund
Manchen Kindern gelingt dies sehr gut. Anderen fällt es schwer. Sie lassen sich zu Dingen überreden, die sie hinterher bereuen. Sie fühlen sich genötigt, Ja zu sagen, wenn sie Nein meinen. Sie passen ihre Meinung der Gruppe an und spüren immer weniger, was ihnen selbst wichtig wäre. Doch wieso ist es so schwierig, zu sich zu stehen? Und wie können wir Kinder und Jugendliche diesbezüglich stärken? Als soziale Lebewesen sind Menschen so sehr auf die Gruppe angewiesen, dass sich im Laufe der Evolution ein angeborener Wunsch nach Zugehörigkeit und eine angeborene Angst vor Ausschluss aus der Gruppe entwickelt haben.
Kein Smartphone zu besitzen, kann einen zum Aussenseiter machen
Zu sagen, was man denkt, kann negative Folgen nach sich ziehen. Auch heute noch kann eine abweichende Meinung in vielen Ländern die Freiheit und das Leben kosten. Aber auch bei uns sollte nicht unterschätzt werden, wie schwierig es sein kann, sich abzugrenzen, anders zu denken und sich anders zu verhalten. Kein Smartphone zu besitzen, kann in manchen Schulen und Klassen dafür sorgen, dass man zum Aussenseiter wird. Mit «falschen» Kleidern kann man zur Zielscheibe für Spott werden. Sagen, was man denkt, kann Freundschaften, den Job oder die soziale Stellung kosten. Es ist wichtig, dass man als Eltern bewusst wahrnimmt, wie schwierig es sein kann, zu sich zu stehen. Für Kinder und Jugendliche ist dies noch schwieriger, weil sie sich ihre soziale Gruppe noch nicht aussuchen können, sondern sich mit der Klasse oder dem Quartier arrangieren müssen. Wenn wir in eine Situation geraten, in der wir Stellung beziehen müssen, beginnt ein Prozess des inneren Abwägens. Wir rechnen die Vorteile gegen die Nachteile auf und entschliessen uns, entweder mutig für uns einzustehen oder dem Druck von aussen nachzugeben. Wir fragen also: Ist es mir das wert?
Wovon es abhängt, ob wir für uns einstehen Ob es uns «das» wert ist, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Es fällt Kindern deutlich leichter, sich für ihre Anliegen einzusetzen, wenn sie:
- eigene Wünsche und Gefühle differenziert wahrnehmen und gut ausdrücken können;
- in der Gruppe eine starke Position haben und wissen, dass eine abweichende Meinung an ihrer Beliebtheit nichts ändern wird;
- viele Freunde haben und daher unabhängiger sind;
- wissen, dass Beziehungen einiges aushalten und man sich nach Streit und Unstimmigkeiten auch wieder vertragen kann;
- Vorbilder haben, die ihnen vermitteln, dass man sich nicht verbiegen muss, um dazuzugehören, und die sie so annehmen, wie sie sind.
Es hängt auch von der Persönlichkeit ab, wie gut Kinder mit sozialem Druck umgehen können. Manche Kinder weisen eine hohe Zurückweisungs- Sensitivität auf. Man versteht darunter die Tendenz, Zurückweisung zu erwarten («Die werden mich eh nicht mögen!»), Ereignisse rasch als solche zu interpretieren («Die lachen sicher über mich!») und emotional übermässig stark darauf zu reagieren («Die hassen mich alle! Ich bin nichts wert!»). Manchmal sind es auch neue Situationen und Veränderungen, die Kinder verunsichern, die sonst keine Mühe haben, für sich einzustehen (eine neue Gruppe, eine neue Schule, die Pubertät usw.)
«Echte Unabhängigkeit entsteht, wenn Sie Ihrem Kind dabei helfen, auf sich selbst zu hören.»
Fabian Grolimund
Wenn ein Kind Mühe hat, mit Gruppendruck umzugehen, fordern Eltern nicht selten, dass das Kind zu sich und seiner Meinung stehen soll. Sie sagen Sätze zum Kind wie: «Du musst einfach sagen, wie du dich fühlst!», «Es spielt doch keine Rolle, was die anderen von dir denken!». Solche Äusserungen setzen das Kind unter Druck. Gleichzeitig nimmt man ihm damit die Möglichkeit zu echter Unabhängigkeit. Das Kind kann nur noch «entscheiden», wessen Druck es nachgibt – dem der Eltern oder einer anderen Gruppe. Es wird ihm aber nicht mehr gelingen, in sich hineinzuhorchen und die eigene Stimme zu hören.
Sie können Ihrem Kind dabei helfen, eine eigene Lösung zu finden
Echte Unabhängigkeit entsteht, wenn Sie Ihrem Kind dabei helfen, auf sich selbst zu hören. Anstatt ihm zu sagen, wie es sich verhalten soll, können Sie zuhören. Sie können ihm Fragen stellen: «Hm … deinen Freunden scheint das sehr wichtig zu sein. Wie ist das denn für dich?» Sie können ihm helfen, sich das Dilemma, in dem es steckt, bewusst zu machen und abzuwägen: «Du möchtest nicht an die Party – aber du hast Angst, dass Tina und Rebecca dann enttäuscht von dir sind?» Sie können dem Kind dabei helfen, seine eigene Lösung zu finden. Manchmal wird es zu sich stehen und ist froh, wenn Sie ihm dabei helfen, nach der richtigen Formulierung zu suchen. Manchmal wird es sich auf etwas einlassen, um andere nicht zu enttäuschen. Die Schwierigkeit bei solchen Gesprächen besteht darin, nicht nur die Beweggründe des Kindes, sondern auch die eigenen zu reflektieren. Ein Vater meinte zu mir: «Was kann ich tun, damit mein Sohn mehr Selbstvertrauen entwickelt? Er wünscht sich Nike-Turnschuhe – nur weil die alle in der Klasse tragen. Ich möchte, dass er sich dem Gruppenzwang widersetzen kann.»
«Um Ihr Kind zu stärken: Sagen Sie ein wenig öfter, was Sie denken – und handeln Sie danach.»
Fabian Grolimund
Im Gespräch wurde ihm bewusst, dass es ihm gar nicht um Unabhängigkeit ging: «Wissen Sie, wenn ich ehrlich bin, finde ich Markenkleider einfach blöd und ich möchte, dass er das so sieht wie ich. Er scheint diese Turnschuhe aber wirklich toll zu finden.» Der Vater sprang schliesslich über seinen Schatten und erfüllte seinem Sohn den Wunsch.Wir alle verbiegen uns ab und zu. Wir jammern zu Hause, anstatt dem Chef diplomatisch, aber direkt zu sagen, dass wir seine Idee unausgereift finden. Wir treffen uns mit Bekannten oder Verwandten, wenn wir gar keine Lust darauf haben. Wir verschweigen dem Partner Dinge, die uns missfallen, um keinen Streit zu riskieren oder ihn nicht zu verletzen. Wir reden über andere anstatt mit ihnen. Manchmal ist das sinnvoll – oft ist es einfach im Moment bequemer und führt langfristig dazu, dass wir uns fremdbestimmt fühlen. Darum wäre der letzte Tipp, um Ihr Kind zu stärken: Sagen Sie ein wenig öfter, was Sie denken – und handeln Sie danach. In vielen Fällen werden die Folgen viel positiver sein, als Sie sich dies vorstellen können. Ihr Kind wird Sie dabei beobachten und selbst etwas mutiger werden.
Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). In der Rubrik «Elterncoaching» beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 36-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 3, und einer Tochter, 11 Monate. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg.
www.mit-kindern-lernen.ch /
www.biber-blog.com
Fabian Grolimund schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi. Interesse an weiteren spannenden Themen rund um Eltern, Kinder und Jugendliche?
Jetzt Abonnement bestellen!