Warum meine Kinder im Internat sind - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Warum meine Kinder im Internat sind

Lesedauer: 4 Minuten

Es gibt gute Gründe, sein Kind niemals aufs Internat zu schicken. Fehlende Nestwärme, veraltete pädagogische Konzepte, Heimweh, die Erziehung der Zöglinge fremden Personen überlassen, um nur ein paar Dinge aufzuzählen. Genau so gibt es aber Gründe, die fürs Internat sprechen: Neues Umfeld, neue Freunde, individuelle Förderung, strukturierter Tagesablauf, Selbständigkeit, die Erziehung der Zöglinge fremden Personen überlassen. 

«Boah, das könnte ich nie!», ist oft die erste Reaktion, wenn ich jemandem sage, dass unsere beiden Kinder in einem Internat leben. 250 km weg von daheim. Oder: «Ihr macht es euch ganz schön einfach, die Kinder so locker wegzugeben und sämtliche Probleme auszulagern!» Das sitzt und mein Mutterherz leidet. Auch, weil ein Kern Wahrheit darin steckt? 
Weshalb haben wir denn unsere Kinder, heute 18 und 17 Jahre alt, vor drei Jahren in ein Internat gegeben? Hat es damit zu tun, dass wir die ewigen Streitereien um die Hausaufgaben satt hatten? Dass ich zwischendurch vom andauernden «Hast du schon?», «Musst du nicht noch?», «Mach vorwärts!», «Beeil dich endlich» als Herdentreiberin müde war? Ja, sicher. Aber nicht nur.

Sohn: «Ich bin dann mal weg»

Unser Junge ist ein ambitionierter Skifahrer. Für ein Schweizer Skisportinternat reichte es aber nicht, einerseits fehlte die nötige Aufnahme ins Kader, andererseits das Kleingeld in der Portokasse. Und so blickte mein Mann in seine Heimat Bayern. Und tatsächlich fand sich dort eine Partnerschule des Wintersports, die das Trainieren auf und neben dem Schnee ermöglicht. Der Bub war gleich begeistert: «Da will ich hin!» 

Internat? «Da will ich hin!»

Wir haben alles genau studiert: Die Aufnahmebedingungen, die Regeln, die Schule, das Internatsleben. Haben ein paar Tage Ferien in der Umgebung vor Ort verbracht. Mit dem Schulleiter, dem Internatsleiter und dem Skitrainer gesprochen, stets zusammen mit unserem Sohn natürlich. Der seinen Entschluss längst gefällt hatte

Jedem Anfang liegt ein Zaudern inne

Und dann war es soweit. Nach den Sportferien (der Skitrainer überzeugte uns, den Einstieg noch in der laufenden Rennsaison zu bewältigen, statt erst im Sommer ins Team dazu zu stossen) nahmen wir unseren Jungen aus der hiesigen Schule und brachten ihn nach Bayern. Sein Zimmer wurde ihm gezeigt, ich packte die Kleider aus, legte sie in den alten Holzschrank. Erzieher, Bubentrakt, Mädchentrakt, Regelblatt, Essenzeiten, Studierzeiten, Jeton für die Waschmaschine, Ausgehzeiten, mir surrte der Kopf. Der Bub war kreidebleich, verschwand im Gemeinschaftsbad und leerte den gesamten Magen kopfüber in eine Schüssel. Das war sein Einstand. Mir zerriss es beinahe das ganze Herz. Hätte er etwas gesagt, wir hätten den Jungen sofort wieder mit nach Hause genommen. Aber nein, nichts kam von ihm. Kein Ton. Also blieb er. 
 
Die ersten Wochen waren bitterhart. Da litt der Junge schon kräftig. Das Heimweh packte ihn ständig und schnürte seine Kehle zu. Dann lebte er sich ein. Fand Freunde. Schlug Wurzeln. Tat sich zwar schwer mit dem anderen Schulsystem, schliesslich ist das in Bayern etwa gleich intensiv wie das in Zürich, erzählte gleichwohl lustige und interessante Geschichten bei uns daheim und machte bei jedem Besuch die kleine Schwester neugieriger auf das Internatsleben. Sie selbst ist zwar keine Skikanone und doch steigerte sich ihr Wunsch, ebenfalls ins Internat zu wechseln. Zu ihrem Bruder. Denn dieser fehlte ihr sehr. Schliesslich streitet es sich doch am besten mit ihm.

Die Schwester folgt dem Bruderherz

Mein Mann nickte, offen und zuversichtlich wie er ist. Warum nicht auch das Töchterchen, wenn es dem Sohnemann doch mittlerweile gut gefällt? Mein Mutterherz verkrampfte sich erneut. «Beide Kinder so weit weg?» Bis dahin hatte ich ja immerhin noch ein Kind von zweien zu Hause und unter uns gesagt, mit einem Kind war der Alltag ziemlich locker. Quasi voll die rosarote Zeit.
 
Doch alsbald zog auch unsere Tochter in den Mädchentrakt. Und ich habe geheult wie ein Schlosshund. Was haben mir die beiden Kinder gefehlt! Unglaublich! Sie tun es übrigens immer noch, denn mit dem Loslassen habe ich so meine liebe Mühe. Um uns abzulenken, besuchten mein Mann und ich in der ersten Woche ohne Kinder jeden Abend ein Kino oder ein Theater, gingen zum Essen, setzten uns in eine Bar, als wären wir Teenager. 
 
Die Abende neu zu strukturieren, den Alltag nur noch zu zweit einzurichten, das ist schon eine echte Herausforderung. Klar kommt dies irgendwann auf alle Eltern zu. Nur war es bei uns irgendwie doch sehr plötzlich. Inzwischen haben wir uns eingemittet, haben wieder Themen ausserhalb von Kindern und ihren Hausaufgaben gefunden.

Wie geht es den Kindern heute?

Die Kinder sind nun schon drei, respektive zweieinhalb Jahre im Internat. Mal geht es besser, mal schlechter. Sie haben es sicher nicht einfach. Die Regeln dort sind um einiges strenger als bei uns zu Hause. Im Internat gibt es wenig Ausgehzeiten, Handyverbote, Nikotin- und allerlei sonstige Drogentests. Wer dagegen verstösst, packt seine Siebensachen. Bei kleineren Regelbrüchen stehen Küchen- und Putzdienst an. Sie schätzen es inzwischen umso mehr, wenn sie daheim sind und bei uns nicht alles so furchtbar strikt gehandhabt wird. Sie sich ihr Lieblingsessen wünschen dürfen – und ja, die Kochkunst von Mama wird plötzlich wieder sehr geliebt – und in ihren vier Wänden sein können. Sie sind um einiges selbständiger geworden, waschen beispielsweise ihre Schmutzwäsche selbst. Sie haben neue Freunde gefunden, wollen daheim aber auch ihre alten Freundschaften nicht vergessen. Das zerrt sie manchmal ein wenig hin und her. Zwei Seelen in ihrer Brust. Und dies ist sicher nicht immer locker wegzustecken. Wenn sie sich gerade wohlig warm daheim eingerichtet haben, müssen sie am Sonntagabend wieder ins Internat einrücken. 
 
Es ist ihr Weg, den sie beide einschlagen wollten. Dafür haben sie unseren Respekt. Wohin es sie trägt, wenn sie die Schule abgeschlossen haben und die Matur im Sack haben, das wissen wir heute noch nicht. Doch – um es in den Worten meines Mannes zu sagen – da sind wir offen und zuversichtlich. Einfach wird es auch weiterhin für alle nicht, aber wer sagt schon, dass alles im Leben immer easy ist?

Foto: Pexels

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Zur Autorin:

Irma Aregger arbeitet als freischaffende Texterin. Die humorvolle Zürcherin kämpft abwechslungsweise mit dem
Irma Aregger arbeitet als freischaffende Texterin. Die humorvolle Zürcherin kämpft abwechslungsweise mit dem eigenen Hormonhaushalt oder mit den Fahrkünsten des Sohnes, langweilig ist ihr selten.