Auf der schiefen Bahn
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Er sagte: Rate mal.
Ich sagte: Was denn?
Er: Ich musste auf den Polizeiposten. Unseren Sohn abholen gehen. Er ist beim Klauen erwischt worden.
Ich bin eine mit zwei tollen Kindern gesegnete Mutter, sie haben noch nie wirklich Probleme gemacht. Deshalb war diese Situation neu, und in meinem mütterlichen Hirn kochten sofort panische Gedanken hoch: Mein Sohn, auf der schiefen Bahn! Ich wusste immer, dass er ein Filou ist. Wo soll das noch enden? Werde ich ihn dereinst im Gefängnis besuchen müssen? Haben wir als Eltern versagt?
Werde ich ihn dereinst im Gefängnis besuchen müssen? Haben wir als Eltern versagt?
Trotzdem brauchte ich jetzt psychologische Unterstützung. Ich erzählte es meinen Schwestern, Freundinnen, Kollegen. Sie schienen es alle ziemlich locker zu nehmen. Die Schwester sagte: «Was hat er denn geklaut?» Ich wusste es nicht. Vor lauter Panik hatte ich vergessen zu fragen. Die Schwester fuhr fort: «Erinnerst du dich, wie wir im Vorschulalter mal in einem Laden ein paar Glitzerketten mitlaufen liessen und Mama sie zu Hause in der Schublade gefunden hat?» Ich erinnerte mich. Wir mussten alles zurückbringen und standen dann heulend und zitternd vor dem Filialleiter, dem die Szene offensichtlich höchst unangenehm war. Wir haben nie mehr gestohlen.
Wir mussten alles zurückbringen und standen dann heulend vor dem Filialleiter. Wir haben nie mehr gestohlen.
Abends fragte ich endlich meinen Sohn, was er denn habe klauen wollen. Er berichtete mir beschämt, der Kollege und er hätten versucht, einen Scherzartikel zu stehlen. Einen Furzspray. Um der Lehrerin einen Streich zu spielen. Ich musste lachen. Vielleicht war das mit der Polizei ja tatsächlich etwas übertrieben, selbst wenn man Furzspray als eine Art Einstiegsdroge zu späteren Sprayereien versteht. Ich weiss nicht, ob ich jetzt auch auf eine künftige Anwaltskarriere des Sohnes hoffen kann. Aber stehlen wird er wohl so schnell nicht mehr.
Michèle Binswanger ist Philosophin, Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel. Sie schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi.