Attestlehre: Chance oder Sackgasse? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Attestlehre: Chance oder Sackgasse?

Lesedauer: 2 Minuten

Die zweijährige Attestlehre wurde geschaffen, um schulisch weniger starken Jugendlichen den Einstieg in die Berufsbildung und in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Wird sie diesem Anspruch gerecht oder ist man mit dem «Eidgenössischen Berufsattest» auf Niedriglohnjobs festgelegt?

Text: Stefan Michel
Bild: Rawpixel.com

Was tun, wenn die Schulnoten nicht aus- reichen für eine Lehre als Fachangestellte Gesundheit oder eine KV-Lehre? In vielen Berufen ist das mittlerweile kein Grund mehr, auf ein anderes Feld auszuweichen. Im Gesundheitswesen gibt es neben der genannten dreijährigen Lehre die zweijährige zum Assistenten Gesundheit und Soziales, die Lehre zur Büroassistentin dauert ebenfalls zwei Jahre. Beide sind berufliche Grundbildungen mit dem Eidgenössischen Berufsattest EBA als Abschluss.

Berufsleute mit einem EBA gelten auch ohne Folgeausbildung als qualifizierte Arbeitskräfte.

Vorläufer der Attestlehre ist die Anlehre, eine kaum formalisierte verkürzte Berufsausbildung. Eine besonders wichtige Neuerung der EBA-Lehre ist, dass sie bei guten Leistungen berechtigt, in zwei weiteren Lehrjahren ein EFZ zu erlangen. Der Weg über die Attestlehre dauert also ein Jahr länger. Doch auch ohne Folgeausbildung gelten Berufsleute mit einem EBA als qualifizierte Arbeitskräfte.

In der Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten ein starker Wandel stattgefunden. War es in den Siebzigerjahren noch verbreitet, ohne formale Berufsausbildung zu arbeiten, sind Arbeitskräfte ohne Diplom heute in der Minderheit und oft die ersten, die ihre Stelle verlieren, wenn die Wirtschaft schwächelt. Dass heute die überwiegende Mehrheit einen Berufsabschluss hat, ist ein Erfolg des Schweizer Bildungssystems. Ohne ist es aber schwieriger geworden, gut bezahlte, sichere Jobs zu finden.

In der Bildungspolitik setzte sich die Überzeugung durch, dass der Einstieg in die Berufsbildung möglichst kurz nach der obligatorischen Schulzeit entscheidend ist. Wer diesen verpasst, tut sich schwer, später eine berufliche Qualifikation zu erlangen. Dies, obwohl in den letzten zwei Jahrzehnten viele neue Möglichkeiten geschaffen wurden, im Erwachsenenalter Ausbildungen nachzuholen oder sich praktisch erworbene Fähigkeiten mit einem Diplom anerkennen zu lassen.

Geringeres Einkommen als nach einer EFZ-Lehre

Die Attestlehre ist also ein Einstieg, aber genügt sie auch, um am Arbeitsmarkt zu bestehen? Die Verdienst- und Beschäftigungschancen von Arbeitskräften mit einem EBA liess der Bund 2016 untersuchen. Die wichtigsten Resultate: EBA-Absolventinnen und -Absolventen finden weniger leicht eine Stelle als Berufseinsteiger mit einem EFZ und nur unwesentlich leichter als Menschen, die eine Anlehre gemacht hatten. Dabei ist zu präzisieren, dass die grosse Mehrheit aller Befragten eine Anstellung fand.

Ähnlich sieht das Bild beim Einkommen aus: EFZ-Absolventen verdienen mehr, Angelernte nur unwesentlich weniger. Doch auch zwischen EBA und EFZ liegen bezüglich Einkommen keine Welten. Man findet mit dem EBA also durchaus den Sprung in den Arbeitsmarkt. Wie sich das Einkommen der Berufsleute mit diesem Abschluss langfristig entwickelt, ist noch nicht untersucht worden. Viele erst vor wenigen Jahren geschaffene Grundbildungen lassen Langzeituntersuchungen noch nicht zu.

Gefragt in Gesundheits- und ­Pflegeeinrichtungen

Ein erfolgreiches Berufsbild ist jenes des Assistenten oder der Assistentin Gesundheit und Soziales (AGS). Über 1000 Personen schliessen jährlich mit diesem Diplom ab, in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen sind sie gefragt. Aufgrund ihres Qualifikationsniveaus verdienen sie etwas weniger, dafür können es sich die Pflegezentren leisten, sie neben anderem für Gespräche und Spaziergänge mit den Patientinnen und Patienten einzusetzen. Die AGS haben die Möglichkeit, in einer verkürzten EFZ-Lehre zu Fachangestellten Gesundheit zu werden.

Rund ein Drittel derjenigen, die eine EBA-Lehre beginnen, erlangen in der Folge auch ein EFZ. Hinzu kommen rund 10 Prozent der EBA-Absolventinnen und -Absolventen, die eine andere Form der Weiterbildung verfolgen. Das sind nach Ansicht von Fachleuten erfreuliche Zahlen. Das bedeutet aber auch, dass sich Tausende Absolventinnen und Absolventen pro Jahr mit dem Berufsattest als höchstem Bildungsabschluss begnügen.

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Philipp Gonon, Professor für Berufsbildung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich, ist nicht überrascht: «Leute, die weniger hoch qualifiziert sind, haben auch weniger Neigung, sich weiterzubilden. Vielleicht haben sie ihre bisherige Ausbildung nicht nur positiv erlebt. Vielleicht fehlt es auch an niederschwelligen Angeboten.»

Die Attestlehre ebnet jedes Jahr gegen 8000 mehrheitlich jungen Menschen den Eintritt in die Berufsbildung. Das ist definitiv der bessere Weg, als nach der Sekundarschule keine weitere Ausbildung zu beginnen. Doch der Arbeitsmarkt entwickelt sich hin zu anspruchsvolleren Tätigkeiten. Wer Schritt halten will, muss sich weiterbilden. Die Eintrittskarte zum breiten Weiterbildungsangebot ist aber das EFZ. Das Berufsattest reicht dafür nicht.

Stefan Michel
ist freier Journalist und Texter und lebt mit seiner Partnerin und zwei Kindern in Zürich.

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