«Quarantäne ist für Kinder schlimmer als der Lockdown» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Quarantäne ist für Kinder schlimmer als der Lockdown»

Lesedauer: 6 Minuten

Kinder und Jugendliche, die in Quarantäne müssen, fühlen sich isoliert, sagt Professorin Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Zürich. Und sie müssten vor allem dahingehend unterstützt werden, den Anschluss an den Schulstoff und zu ihren Gspänli nicht zu verlieren.

Interivew: Dorothee Neururer
Bild: Getty Images

Frau Walitza, seit einigen Wochen steigen die Infektionszahlen wieder. Was bedeutet das für Kinder und Jugendliche?

Das bedeutet, dass in der Schweiz aktuell wieder viele Kinder in Quarantäne sind oder sich davor fürchten. Das ist für einige noch belastender als der erste Lockdown im Frühling 2020, von dem alle Kinder ja gleichermassen betroffen waren.

Warum wird die Quarantäne als schlimmer empfunden?

Das Gefühl der Ausgrenzung ist grösser. Zudem schwebt die Quarantäne stetig drohend über dem Schulalltag. Belastend ist auch die Unsicherheit, wie lange das so noch geht. Es ist wichtig, dass wir uns vor Augen halten, dass Kinder und Jugendliche deutlich weniger Bewältigungsstrategien gegen Stress entwickelt haben als Erwachsene. Sie haben viel weniger Lebenserfahrung, befinden sich mitten in wichtigen Entwicklungsschritten und können reale Furcht und Erwartungsängste noch nicht so gut unterscheiden.

Susanne Walitza ist Direktorin der Klinik
für Kinder- und Jugend­psychiatrie und Psychotherapie an der Psychia­trischen ­Universitätsklinik Zürich. Sie ist im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) und für Angst und Depression (SGAD) sowie Autorin von Fachliteratur zum ­Erkennen und Behandeln von Angststörungen.

Sie sind Co-Leiterin der ersten schweizweiten Studie zu ­psycholo­gischen Folgen der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen, die im April veröffentlicht wurde. Gibt es Parallelen zur jetzigen Situation?

Abgesehen vom Gefühl des Ausgeschlossenseins, das Kinder und Jugendliche zusätzlich stresst, wirkt sich die Quarantäne ähnlich aus wie der Lockdown: Kinder und Jugendliche äusserten, dass es für sie schwer war, wenn wichtige Pläne oder Ereignisse verschoben oder abgesagt werden mussten und sie nicht an sozialen Aktivitäten in der Freizeit oder in der Schule teilnehmen konnten. Die Ungewissheit beim Warten und die Angst vor dem Testresultat zeigten sich bei gewissen Kindern und Jugendlichen mit Symptomen wie Bauchschmerzen, Irritabilität oder Wutanfällen. Generell betrachtet sehen wir in unserer Klinik seit Herbst 2020 auch deutlich mehr Notfälle. Ein Teil dieser Jugend­lichen wäre wahrscheinlich ohne die Pandemie nicht so akut und schwer erkrankt. Wie rasch sich diese Gruppe wieder erholen wird oder wie lange sie Behandlung braucht, wissen wir heute noch nicht genau.

Quarantäneregeln an den Schulen

Link-Tipp: Lesen Sie die häufigsten Fragen zum Thema Kinder und Schule auf der Webseite des Bundesamts für Gesundheit: www.bag.ch

In der Schweiz ist es kantonal geregelt, wie die Volksschulen mit obligatorischen Quarantänen in der Schule umgehen. Aktuell müssen Schülerinnen und Schüler im Kanton Bern, beispielsweise, bei einem Ausbruch nicht mehr klassenweise in Quarantäne gehen.

Im Kanton Zürich verfügt jede Schule über ein eigenes Schutzkonzept und das repetitive Testen der Kinder soll die Quarantäne erleichtern, für Kinder ohne engen Kontakt zu einer angesteckten Lehrperson, zum Beispiel, oder einem anderen Kind.

Der oberste Impfchef Christoph Berger lancierte im Herbst die Idee, die Quarantäne für Kinder ganz ­aufzuheben. Was schlagen Sie vor, um die Situation für Kinder und Jugendliche zu ­verbessern? 

Für mich steht der Schutz der Kinder und Jugendlichen an erster Stelle. Daher hoffe ich zunächst einmal, dass alle Erwachsenen, die mit Kindern in Kontakt kommen, geimpft sind. Je mehr geimpft und getestet wird, desto seltener müssen Kinder in Quarantäne. Nachbarländer, die keine oder kürzere Quarantänen in Schulen haben, testen viel häufiger. Es gibt sogenannte Lutschtests, die für Kinder angenehmer sind.

Und was, wenn eine Quarantäne doch nötig wird?

Dann wünsche ich mir, dass für die Kinder ein Programm besteht, wie sie den Unterricht online wahrnehmen können, aber mit einer individuellen Unterstützung, da die Lehrpersonen ja wieder auf die Klasse vor Ort konzentriert sind. Dann empfehle ich eine institutionalisierte soziale Einbindung dieser Schülerinnen und Schüler in Form von Arbeitsgruppen, in denen sich die betroffenen Kinder aus der Klasse online treffen können. Die Schülerinnen und Schüler in Quarantäne müssen motiviert werden, am Schulstoff dranzubleiben, und darin unterstützt werden, den sozialen Kontakt zu ihren Gspänli weiterhin pflegen zu können.

Thema Impfen: Leiden auch Kinder und Jugendliche unter der hitzig geführten Impfdiskussion?

Absolut! Viele Kinder und Jugendliche können nur schwer nachvollziehen, dass es bei einem so wichtigen Thema wie bei der Bekämpfung von Corona so unterschiedliche Meinungen gibt und die Auseinandersetzung darüber so hitzig und manchmal extrem polarisierend geführt wird. Schon für Erwachsene ist es schwierig auszuhalten, dass bei diesem Thema Meinungen so heftig aufeinanderprallen.

Schülerinnen und Schüler in Quarantäne müssen darin unterstützt werden, ihre Kontakte weiterhin pflegen zu können.

Was können Eltern tun?

Eine wichtige Aufgabe der Bezugspersonen besteht darin, den Kindern so viel Sicherheit wie möglich zu vermitteln und dabei aufrichtig und ehrlich zu bleiben. Das ist gerade in einer Zeit, die Erwachsene selbst als sehr belastend empfinden, nicht leicht. Bei Jugendlichen ist es zudem wichtig, neben dem fürsorglichen Handeln zum Wohle des Jugendlichen auch Respekt vor seiner autonomen Entscheidungsfreiheit zu zeigen. Auch das ist nicht immer einfach umzusetzen, gerade bei sehr unterschiedlichen Einschätzungen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Ich weiss von einem Fall eines Jugendlichen, der zu den letzten drei nicht geimpften Schülern seiner Klasse gehörte. Um einfacher in den Ausgang gehen zu können, wollte er sich unbedingt impfen lassen. Doch die Eltern waren dagegen. Der Schüler wusste nicht, wie mit dieser Situation umgehen. Denn er vertraute seinen Eltern und wusste, dass sie nur sein Bestes wollen. Was also tun?

Welche Folgen die Pandemie langfristig hat, wird erforscht. Lesen Sie hierzu den Artikel «Tipps gegen den Quarantäne-Koller bei Kindern»

Was wäre ein guter Rat an diese Eltern?

In so einer Situation wäre es hilfreich, wenn skeptische Eltern ihren Kindern aufzeigen könnten, wo sie sich seriös über die Impfung informieren können. Auch hilft es, dem Kind zu vermitteln, dass Mama und Papa unabhängig davon, wie sich der Sohn entscheidet, seinen Wunsch respektieren werden.

Bei vielen Jugendlichen ist der Medienkonsum im Lockdown stark angestiegen – bei einigen ist er so hoch geblieben.

Welche Erkenntnisse gibt es über die psychischen Langzeitfolgen der Pandemie bei Kindern?

Die sind noch nicht klar abzusehen. Es kommt hier sehr wahrscheinlich stark auf die Ressourcen und Risikofaktoren an, die jedes einzelne Kind hat. Kinder in benachteiligten Familien haben es ungleich schwerer, durch die Pandemie zu kommen. Wir wissen auch, dass Kinder viel mehr alleine waren. Und wir haben gesehen, dass der Medienkonsum bei einem Grossteil der Jugendlichen im Lockdown stark anstieg. Zwar hat sich dieser bei den meisten wieder auf das Ausgangsniveau reduziert. Bei einer kleinen Gruppe aber ist der hohe Medienkonsum geblieben. Der pathologische Medienkonsum wird uns sicher noch länger beschäftigen.

Online-Unterricht ist seit Corona zur Normalität geworden. Vieles wird, unabhängig von der Quarantäne, auch virtuell für die Schule erledigt. Wie beurteilen Sie dies hinsichtlich der psychologischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen?

er persönliche Austausch für Kinder und Jugendliche unter den Peers und Lehrpersonen hat eine enorme Bedeutung für die soziale und emotionale Entwicklung. Ein virtuelles Klassenzimmer kann Unterricht in der Schule aus diesem Grund nicht ersetzen. Es kann nur eine Ergänzung sein. Aber klar: Die Pandemie hat uns alle – ob in den Schulen, im Job oder in der Medizin – gezwungen, die Digitalisierung voranzutreiben. Das Anspruchsvolle ist, sowohl die Möglichkeiten als auch die Gefahren und die Risikoentwicklungen gut zu erkennen und damit umgehen zu lernen.

Was meinen Sie damit?

Ich persönlich finde es ja auch gut, nicht mehr zu jeder Sitzung fahren zu müssen. Aber die Digitalisierung hat uns träge gemacht und führt dazu, dass sich die Menschen, speziell Kinder und Jugendliche, noch weniger bewegen. Kinder sollen neben der Schule aber Freizeitaktivitäten nachgehen, viel draussen und im Austausch mit anderen Kindern sein, um aktive positive Erfahrungen machen zu können und die Selbstwirksamkeit zu erleben. Fehlt dies aufgrund von Isolation und des Auf-sich-alleine-gestellt-Seins, kommt es vermehrt zu Konzentrationsstörungen, Angst und eben einem deutlich erhöhten Medienkonsum.

Studie: Stress und psychische Probleme während des ersten Covid-19-Lockdowns

Quälende Ungewissheit, soziale Einschränkungen und verschobene Pläne sind Folgen des Lockdowns. Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen hatte während des ersten Covid-19-Lockdowns in der Schweiz psychische Probleme. Dies zeigt die erste schweizweit repräsentative Studie zu Stress und psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen der Universität Zürich und von La Source (HES-SO) Lausanne, die im April 2021 veröffentlicht wurde. Studien-Co-­Leiterin Susanne Walitza fasst die wichtigsten Empfehlungen und Aussagen zusammen:

  • «Die wichtigste Empfehlung war und ist, dass die Schulen so viel und lange wie möglich offen sein sollten. Die Kinder haben bereits im ersten Lockdown die Tagesstruktur und die Routine offensichtlich schmerzlich vermisst. Speziell für Mütter war die Organisation von Arbeit, Familie, Homeoffice und Homeschooling eine enorme Belastung.»
  • «Kinder sollten neben der Schule Freizeitaktivitäten nachgehen, viel draussen und im Austausch mit anderen Kindern sein, um aktive positive Erfahrungen machen zu können und die Selbstwirksamkeit zu erleben. Fehlt dies, kommt es vermehrt zu Konzentrations­störungen, Angst und erhöhtem Medienkonsum.» 
  • «Eine nach wie vor zentrale Botschaft ist, dass Kinder und Jugendliche zur besonders vulnerablen Gruppe gehören, sprich von der Pandemie besonders betroffen sind. Sie leiden selbst darunter (reale Angst vor der Ansteckung, Zukunfts­angst, wie lange geht das, was bedeutet das für mich), haben weniger Bewältigungsmechanismen und sind abhängiger davon, wie ihre Eltern die Situation bewältigen.»

Zur Studie:
Mohler-Kuo, M.; Dzemaili, S.; Foster, S.; Werlen, L., Walitza, S. Stress and Mental Health among Children/Adolescents, Their Parents, and Young Adults during the First COVID-19 Lockdown in Switzerland. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18, 4668. doi.org/10.3390/ijerph18094668