Kinderbilder im Netz: No-Go oder gar nicht so schlimm?
Merken
Drucken

Kinderbilder im Netz: No-Go oder gar nicht so schlimm?

Lesedauer: 8 Minuten

Warnende Stimmen fordern, die eigenen Kinder nicht im Internet zu zeigen. Doch haben wir nicht das Recht, schöne Momente mit anderen zu teilen? Müssen wir Kinderbilder wirklich aus Angst vor Darknet und KI aus dem Netz verbannen? Unsere Autorin hadert.

Text: Charlotte Theile
Bild: Adobe Stock

Bei Kinderschutz Schweiz geht es um die harten Themen des Elternseins. Sexuelle Übergriffe, Gewalt in der Erziehung, Früherkennung von Vernachlässigung bei Säuglingen. Es sind nüchtern geschriebene Texte, unterlegt mit seriösen Zahlen und Studien – und einer klaren Parteinahme für Kinder und ihre Rechte.

Und dann ist da diese Kampagne, die sich in den letzten Monaten immer und immer wieder in meinen Feed auf Instagram geschoben hat. Geteilt von anderen Eltern, die offenbar gerade dieses Thema besonders wichtig finden. «Jeder zehnte Elternteil postet regelmässig Bilder seiner Kinder online», heisst es da zum Beispiel. Wenig später wird vor der Verwendung der Bilder im Darknet gewarnt und vor künstlicher Intelligenz, die aus harmlosen Kindergartenfotos Pornos macht.

Eine Checkliste soll verunsicherten Eltern helfen, zu entscheiden, welches Bild sie posten und welches nicht. Die Empfehlung der Kinderschützerinnen und -schützer ist klar: Fotos, auf denen Kindergesichter erkennbar sind, sollten nicht öffentlich geteilt werden. Und damit ganz eindeutig ist, was sie über dieses Thema denken, stellen sie noch «eine letzte wichtige Frage»: «Was bringt es dem Kind, wenn ich dieses Bild auf den sozialen Medien teile? Stille ich damit nicht einzig meine eigenen Bedürfnisse?»

Ich verabrede mich mit Regula Bernhard Hug, Direktorin von Kinderschutz Schweiz, zum Videointerview. Wir sprechen fast eine Stunde miteinander – und merken vor allem, dass wir aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema schauen. Regula Bernhard Hug ist in Kontakt mit Familien mit Kindern und Jugendlichen, deren Bilder im Netz mit künstlicher Intelligenz zu pädokriminellem Material bearbeitet wurden oder die Opfer von Cybermobbing sind.

Niemand will seine Kinder in riskante Situationen bringen. Schon gar nicht mit einem süssen Schnappschuss.

Regula Bernhard Hug, Direktorin Kinderschutz Schweiz

Die Lebenswelt der Kinder im Blick haben

Sie ist direkt «mit den Risiken der digitalen Welt» konfrontiert, wie sie es sagt. Dazu gehören etwa Cybergrooming (gezielte Kontaktaufnahme zu Minderjährigen) und Sextortion (Erpressung mithilfe von Nacktfotos oder anderem sexuell aufgeladenen Material). Sie sagt: «Der bewusste Umgang mit Kinderbildern im Netz und die entsprechende Sensibilisierung sind für mich extrem relevant.»

Ich dagegen bin Mutter eines zwei Jahre alten Jungen, den ich gerne zeige. Und ich schaue mir ebenso gerne Bilder von anderen Kindern und anderen Familien an. Ich finde es schwierig, wenn Kinderfotos aus Angst vor dem Darknet aus dem ganz normalen Internet verbannt werden. Ich bin überzeugt: Wenn wir Kinder nicht mehr sehen, geraten auch ihre Lebenswelten aus dem Blick.

Vom Elternalltag erfährt man in deutschsprachigen sozialen Medien, wo Kinderfotos besonders verpönt sind, vor allem das, was erschöpfte Mütter im Selfie-Modus in die Kamera sprechen: dass die Einschlafbegleitung heute wieder ewig gedauert hat, dass sie hundemüde sind, dass die Kinder gerade zum dritten Mal in diesem Winter einen Magen-Darm-Infekt mit nach Hause gebracht haben.

Die anderen Seiten des Elternseins, die lustigen, absurden, wunderschönen, charmanten – die sind eben meistens mit Kindergesichtern verknüpft. Sie ruhen in Frieden auf dem lokalen Speicher des Mobiltelefons – und werden höchstens mit den Grosseltern oder der Gotte geteilt.

Die Gefahren kennen

Regula Bernhard Hug findet das einen guten Mittelweg. Denn natürlich sei es ein Bedürfnis von Eltern, die herzigen Momente ihrer Kinder festzuhalten und zu teilen. Sie glaubt: Es ist wichtig, dass Eltern die Gefahren kennen, die mit dem Öffentlichmachen einhergehen. Da bin ich ihrer Meinung. Ich meine aber: Diese Gefahren kennen wir eigentlich alle. Schliesslich sind wir seit vielen Jahren im Internet unterwegs.

Wir wissen, dass Bilder, die einmal im Netz landen, dort für immer herumschwirren können. Wir wissen auch, dass es mittels Bildbearbeitung möglich ist, Köpfe aus harmlosen Fotos auf Körper in Pornoszenen zu setzen. Ich behaupte: Eltern wissen sogar, dass Schnappschüsse auf der Toilette oder solche, auf denen Kinder halbnackt sind, nicht in die Öffentlichkeit gehören – und, natürlich, dass man Kinder, sobald sie alt genug sind, fragen kann, was sie von einem Foto halten und ob sie mit dem Teilen einverstanden sind.

Ich will nicht mit dem Gefühl leben, von Pädophilen umgeben zu sein, die nur darauf warten, bösartige Dinge zu tun.

Regula Bernhard Hug weist auf eine Elternbefragung der Universität Freiburg hin. Diese belege, dass sich 20 Prozent der Eltern selten bis nie überlegen, ob ein gepostetes Kinderfoto geeignet ist oder nicht. Sie selbst kennt Fälle, in denen Eltern verzweifelt versuchten, ein Badewannenfoto wieder aus dem Netz zu bekommen. Sie weiss von einem Vater, der seiner 15 Jahre alten Tochter nicht glaubt, dass das Sexvideo, das er gerade gesehen hat, mit KI erstellt wurde. Sie sagt: «Niemand will seine Kinder in riskante Situationen bringen. Schon gar nicht mit einem süssen Schnappschuss.»

Deshalb empfiehlt sie: Kindergesichter nicht von vorne zeigen – und «sich vor dem Posten die Frage stellen, ob ich dieses Bild auch von mir teilen würde». Zwei gute Hinweise. Auch die Meldestelle Clickandstop.ch, auf der man anonym auf pädokriminelles Material aufmerksam machen kann, finde ich super.

Verunsicherte Eltern

Ich telefoniere mit Nora Imlau, einer deutschen Journalistin und Expertin für Familienfragen. Imlau ist eine der wenigen prominenten Stimmen im deutschsprachigen Raum, die die Sache mit den Kinderfotos etwas weniger streng sehen. Die Kampagne von Kinderschutz Schweiz inklusive der Checkliste für verunsicherte Eltern passt für sie gut ins aktuelle Bild der Debatte.

«Wir haben es mit einer Elterngeneration zu tun, die sehr verunsichert ist – und das Bedürfnis hat, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen», sagt Imlau. Keine Kinderfotos zu teilen – und andere dazu aufzufordern, es ebenfalls nicht zu tun –, sei eines der wenigen Themen, die genau diese moralische Sicherheit bereithielten.

Wer hier Haltung zeige, gehöre zu einer gewissen Elternelite, die ihr Kind niemals einfach nur, weil es herzig ist, auf Facebook posten würde. Dabei sei das eigentlich ziemlich normal. «Es gab zu allen Zeiten das Bedürfnis, die eigene Familie zu verewigen und Bilder anzufertigen», sagt Imlau. «Es ist einfach ein schönes Gefühl, sein Kind der Welt zeigen zu können.»

Misstrauen überschattet Freude

Ich muss zugeben: So geht es mir auch. Mir geht es aber noch um etwas anderes. Wenn ich bei jedem Alltagsmoment im Hinterkopf haben muss, dass irgendwo auf der Welt Pädophile sitzen, die nur darauf warten, bösartige Dinge mit meinen Daten zu tun, dann verändert sich alles. Dieses Misstrauen überschattet nicht nur die Freude an den herzigen Fotos, es gibt mir auch das Gefühl, von gefährlichen Menschen umgeben zu sein. So will ich nicht leben.

Und es geht sogar noch weiter: Vor diesen Menschen muss ich nicht nur permanent auf der Hut sein – ich bin sogar selber schuld, wenn sie meine harmlosen Fotos für kriminelle Handlungen missbrauchen. «Diese Täter-Opfer-Umkehr finde ich besonders problematisch», sagt Imlau. «Es ist schliesslich verboten, Bilder von sozialen Medien zu stehlen. Ich finde es nicht in Ordnung, dass hier quasi den Eltern die Schuld am Verhalten der Täter gegeben wird.» Doch genau diese Argumentation hat sich mittlerweile etabliert.

Die wenigen Eltern, die ich kenne, die Bilder von ihren Kindern auf sozialen Medien veröffentlicht haben, trauen sich nicht, öffentlich darüber zu sprechen. «Superschwieriges Thema, ich habe keine klare Strategie», schreibt mir eine Mutter und schickt einen Hashtag nach: #badmom. Eine andere sagt: «Ich habe gerade wieder einen Artikel gelesen, der mir Angst gemacht hat. Vielleicht höre ich bald damit auf.» Beide Frauen zeigen nur sehr selten und sehr ausgewählt Fotos ihrer Kinder. Dass sie Angst haben und sich als schlechte Mütter beschreiben, ist für mich absurd.

Gleichzeitig verstehe ich alle Mütter und Väter, die sich dafür entscheiden, Kinderbilder komplett privat zu halten. Ganz ähnlich wie ich Verständnis für meinen Partner habe, der auf Social Media praktisch unauffindbar ist. Für ihn fühlt sich das richtig an – wunderbar.

Es geht um eine Risikoabwägung

Niemand muss Fotos von seinen Kindern veröffentlichen – und es ist grossartig, dass Kinderschutzorganisationen Informationen anbieten und Familien helfen, die Opfer von Erpressern wurden oder aus Versehen ein Badewannenfoto hochgeladen haben.

Und ja: Es gibt Eltern, die ihre Kinder mit gemeinen Pranks hinters Licht führen und Videos von ihnen hochladen, wie sie in eine Zitrone beissen. Es gibt Influencerinnen, die mit ihren Kindern viel Geld verdienen – und ihnen Druck machen, auch dann vor die Kamera zu stehen, wenn sie keine Lust haben. Das ist nicht okay – hat aber mit der normalen Elternwelt nicht viel zu tun. Dort geht es um andere Abwägungen.

Die Frage, ob und wie wir Fotos von unseren Kindern im Netz teilen, ist eine der vielen Fragen des Elternseins, bei denen es keine eindeutige Antwort gibt.

Zum Beispiel, wenn ich mich frage, wie riskant ein Foto ist, auf dem mein Kind lachend beim Schlittenfahren zu sehen ist. Ich behaupte: Hier kann man sehr wohl zum Ergebnis kommen, dass das Risiko überschaubar ist und die Freude an dem schönen Moment, den man teilen möchte, überwiegt. Oder ich komme zum Ergebnis, dass neugeborene Babys einander so ähnlich sehen, dass niemand das Kleinkind ein Jahr später auf dem Spielplatz erkennt – und entscheide mich deshalb mit gutem Gewissen, das Foto, das hundertfach gedruckt und auf die Geburtsanzeige geklebt wurde, auch ins Netz zu stellen.

Mit anderen Worten – die Frage, ob und wie wir Fotos von unseren Kindern im Netz teilen, ist eine der vielen Fragen des Elternseins, bei denen es keine eindeutige Antwort gibt. Bei denen wir unterschiedliche, einander zum Teil widersprechende Argumente finden werden – und am Schluss dazu aufgerufen sind, unseren eigenen Weg zu gehen.

Sicherheit durch Aufklärung

Mir ist es natürlich wichtig, sobald wie möglich mit meinem Sohn über Identitätsdiebstahl und die Schattenseiten der künstlichen Intelligenz zu sprechen. Ihm zu erklären, was Cybermobbing ist, und ihm zu sagen, dass er, falls so etwas passiert, sowohl das Gesetz als auch seine Eltern hinter sich hat. Ich glaube, dass das mehr Sicherheit bringt als der Versuch, sein Gesicht aus dem Internet herauszuhalten.

Nora Imlau hat sich unterdessen entschieden, ihre Kinder nicht mehr zu zeigen – vor allem aufgrund ihrer neuen Rolle. Die Autorin erreicht auf Instagram mit über 150 000 Followern eine grosse Öffentlichkeit – die ihr nicht immer wohlgesinnt ist. «In der Corona-Pandemie habe ich ganz konkrete Drohungen erhalten», sagt Imlau. «Das hat bei mir ein Level erreicht, bei dem ich nicht mehr das Gefühl hatte, sie seien nur eine theoretische, abstrakte Gefahr.»

Ausserdem sind ihre Kinder inzwischen älter und wollen nicht mehr öffentlich vorkommen. Also hat sie die Bilder vom Netz genommen. Dass es einige Fotos gibt, die weiter auffindbar sind, sei für ihre Kinder in Ordnung. «In einigen Kampagnen wird ein Szenario aufgemacht, dass die Kinder ihren Eltern diese Bilder ewig nachtragen – so war es bei uns auf jeden Fall nicht», sagt Imlau. «Wir haben einfach darüber gesprochen und entschieden, dass es jetzt gerade nicht mehr passt. Das kann sich aber auch wieder ändern.»

Stimmt es für mich, für mein Kind?

Und Regula Bernhard Hug? Am Ende unseres Gespräches ist sie nachdenklich. Zum einen, weil es dem Kinderschutz ein Anliegen ist, dass Kinder und ihre Themen in der Öffentlichkeit vorkommen. Zum anderen, weil sie davon überzeugt ist, dass die klare Haltung, die Kinderschutz Schweiz vertritt, richtig ist – und Eltern genau und ernsthaft abwägen müssen, wie sie mit den Bildern ihrer Kinder umgehen wollen.

Ich glaube: Für diese Abwägung braucht es neben einer Handvoll Informationen vor allem einen Moment, in dem man ganz in Ruhe auf das Foto oder das Video schaut und sich fragt, wie man es fände, wenn man selbst darauf zu sehen wäre, und was diese Aufnahme für das Kind bedeuten könnte.

Wenn sich das komisch anfühlt, ist es wohl besser, es nicht zu teilen. Aber wenn wir uns sicher sind mit diesem Foto – dann dürfen wir ohne schlechtes Gewissen auf Hochladen klicken. Denn trotz aller hitzigen Debatten – die Menschen, die sich über ein solches Bild freuen, sind in der Überzahl. Und wenn wir abwägen, wie wir unseren Alltag mit Kindern leben, sollten wir das Schöne und Leichte nicht aus dem Blick verlieren.

Charlotte Theile
ist Autorin und schreibt über politische und gesellschaftliche Themen. Sie ist 36 Jahre alt, Mutter eines zweijährigen Sohnes und lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Alle Artikel von Charlotte Theile