Herr Plüss, leiden Kinder unter ihrer Hochsensitivität?
Dünnhäutig und überempfindlich? Entwicklungspsychologe Michael Plüss über Vorurteile gegenüber hochsensiblen Menschen und die Frage, wie man ihnen am besten begegnet.
Herr Plüss, wie finde ich heraus, ob ich hochsensitiv bin?
Der gängige Weg verläuft über das Ausfüllen eines Tests: eines Fragebogens, der auf Selbsteinschätzung basiert; bei kleinen Kindern auf der Einschätzung durch die Eltern. Der Fragebogen liefert ein Resultat mit Hinweischarakter. Für eine genauere Einschätzung braucht es weitere Interviews und Abklärungen.
Wie erklären Sie den Begriff der Hochsensitivität?
Hochsensitivität ist die starke Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmals, nämlich der Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen und Eindrücke zu verarbeiten. Jeder Mensch ist sensitiv, entscheidend ist aber die Ausprägung. Dabei ist hochsensitiv nicht dasselbe wie sehr sensitiv. Gemäss unserer Forschung lassen sich Menschen in drei Kategorien von Sensitivität einordnen. Es gibt die durchschnittlich sensitiven Menschen, das sind ungefähr 41 bis 47 Prozent aller Menschen. Weitere 20 bis 35 Prozent sind grundsätzlich weniger sensibel und 25 bis 35 Prozent sind hochsensibel.
Fast alle Betroffenen berichten, dass das Wissen um die eigene Hochsensitivität erleichternd ist.
Das ist sehr verständlich. Ein solches Ergebnis kann helfen, das eigene Empfinden besser einzuordnen und dann das Leben mehr der Veranlagung entsprechend zu gestalten: beispielsweise die Ansprüche, die von aussen an einen herangetragen wer den, besser von den eigenen Ansprüchen abzugrenzen, mehr auf die eigene Intuition zu hören, den eigenen Rhythmus kennenzulernen, ihn zu akzeptieren und schliesslich das Leben danach auszurichten.
Ist es in der heutigen Gesellschaft ein Makel, hochsensitiv zu sein?
Hochsensitivität ist als Veranlagung weder positiv noch negativ zu bewerten. Je nachdem, wie das Leben spielt, welche Erfahrungen man macht, kann es für Hochsensitive einfacher oder schwieriger sein, mit dieser Veranlagung zu leben. Hochsensitive können mit ein paar Strategien ganz gut durch den Alltag kommen.
Kritiker sagen, Hochsensitivität sei eine freundlichere Umschreibung für einen neurotischen Charakter.
Neurotizismus, also emotionale Labilität und Verletzlichkeit, äussert sich etwa darin, grundsätzlich eher ängstlich zu sein. Obwohl Neurotizismus und Hochsensitivität gewisse Ähnlichkeit haben, sind es unterschiedliche Dimensionen der Persönlichkeit. Hochsensibilität darf auch nicht mit Introversion oder Ängstlichkeit gleichgesetzt werden, das würde dem Phänomen nicht gerecht. Es gibt auch hochsensitive Menschen, die emotional stabil und extrovertiert sind.