Herr Plüss, leiden Kinder unter ihrer Hochsensitivität? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Plüss, leiden Kinder unter ihrer Hochsensitivität?

Lesedauer: 4 Minuten

Dünnhäutig und überempfindlich? Entwicklungspsychologe Michael Plüss über Vorurteile gegenüber hochsensiblen Menschen und die Frage, wie man ihnen am besten begegnet.

Herr Plüss, wie finde ich heraus, ob ich hochsensitiv bin?

Der gängige Weg verläuft über das Ausfüllen eines Tests: eines Frage­bogens, der auf Selbsteinschätzung basiert; bei kleinen Kindern auf der Einschätzung durch die Eltern. Der Fragebogen liefert ein Resultat mit Hinweischarakter. Für eine genaue­re Einschätzung braucht es weitere Interviews und Abklärungen.

Wie erklären Sie den Begriff der Hochsensitivität?

Hochsensitivität ist die starke Aus­prägung eines Persönlichkeitsmerk­mals, nämlich der Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen und Ein­drücke zu verarbeiten. Jeder Mensch ist sensitiv, entscheidend ist aber die Ausprägung. Dabei ist hochsensitiv nicht dasselbe wie sehr sensitiv. Gemäss unserer Forschung lassen sich Menschen in drei Kategorien von Sensitivität einordnen. Es gibt die durchschnittlich sensitiven Men­schen, das sind ungefähr 41 bis 47 Prozent aller Menschen. Weitere 20 bis 35 Prozent sind grundsätzlich weniger sensibel und 25 bis 35 Pro­zent sind hochsensibel.
Michael Plüss ist ein Schweizer Entwicklungspsychologe und Professor an der Queen Mary University of London. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Hochsensitivität bei Kindern. 2019 leitet er ein Forschungsprojekt im Kanton Tessin zur erhöhten Sensibilität von Schulkindern im ersten Schulzyklus.
Michael Plüss ist ein Schweizer Entwicklungspsychologe und Professor an der Queen Mary University of London. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Hochsensitivität bei Kindern. 2019 leitet er ein Forschungsprojekt im Kanton Tessin zur erhöhten Sensibilität von Schulkindern im ersten Schulzyklus.

Fast alle Betroffenen berichten, dass das Wissen um die eigene Hochsensitivität erleichternd ist.

Das ist sehr verständlich. Ein solches Ergebnis kann helfen, das eigene Empfinden besser einzuordnen und dann das Leben mehr der Veranla­gung entsprechend zu gestalten: bei­spielsweise die Ansprüche, die von aussen an einen herangetragen wer­ den, besser von den eigenen Ansprüchen abzugrenzen, mehr auf die eigene Intuition zu hören, den eige­nen Rhythmus kennenzulernen, ihn zu akzeptieren und schliesslich das Leben danach auszurichten.

Ist es in der heutigen Gesellschaft ein Makel, hochsensitiv zu sein?

Hochsensitivität ist als Veranlagung weder positiv noch negativ zu bewer­ten. Je nachdem, wie das Leben spielt, welche Erfahrungen man macht, kann es für Hochsensitive einfacher oder schwieriger sein, mit dieser Veranlagung zu leben. Hoch­sensitive können mit ein paar Stra­tegien ganz gut durch den Alltag kommen.

Kritiker sagen, Hochsensitivität sei eine freundlichere Umschreibung für einen neurotischen Charakter. 

Neurotizismus, also emotionale Labilität und Verletzlichkeit, äussert sich etwa darin, grundsätzlich eher ängstlich zu sein. Obwohl Neuroti­zismus und Hochsensitivität gewisse Ähnlichkeit haben, sind es unter­schiedliche Dimensionen der Persönlichkeit. Hochsensibilität darf auch nicht mit Introversion oder Ängstlichkeit gleichgesetzt werden, das würde dem Phänomen nicht gerecht. Es gibt auch hochsensitive Menschen, die emotional stabil und extrovertiert sind.

Sie nennen Hochsensitive auch «Orchideen», wenig Sensitive «Löwenzahn». Warum?

Es ist eine Veranschaulichung: Orchideen reagieren stärker auf äus­sere Bedingungen und trumpfen so richtig auf, wenn diese optimal sind. Ganz anders der Löwenzahn, Meta­pher für die wenig Sensiblen. Dieser bleibt relativ unbeeindruckt von jeg­lichen positiven wie negativen Umständen. Er wächst einfach vor sich hin.

Zeigt sich Empfindsamkeit im Gehirn?

Ja, aber dazu gibt es bis jetzt nur wenige wissenschaftliche Untersu­chungen. Eine Studie aus dem Jahr 2011 belegt eine höhere sensorische Verarbeitung beim Anblick von zwei leicht verschiedenen Landschafts­fotografien. Die hochsensitiven Teilnehmer, deren Hirnaktivität per funktioneller Magnetresonanztomo­grafie (fMRT) aufgezeichnet wurde, waren nicht besser darin, subtile Unterschiede zwischen den zwei Fotos zu registrieren, sie nahmen aber mehr Details wahr als andere. Eine andere Untersuchung aus dem Jahr 2014 kommt zum Schluss, dass jene Areale im Gehirn, die an Aufmerksamkeit, Empathie, Motivation und am Nachdenken über sich und andere beteiligt sind, bei hochsensitiven Menschen vermehrt aktiv sind. 

Was sind weitere Charakteristika? 

Hochsensible verhalten sich tendenziell prosozialer und haben ein gutes Gespür, wenn es irgendwo harzt. Allerdings leiden sie auch stärker unter negativen Spannungen. Sie denken länger und assoziativer über Dinge nach und kommen so eher auf kreative Lösungen. Sie haben aber auch die Tendenz, weniger fokussiert zu sein, was leicht als Unentschlossenheit gedeutet wird. Viele Umweltreize lassen sie schneller abgelenkt sein. Und weil sie mehr wahrnehmen, sind sie auch früher erschöpft oder schneller überlastet.
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Leiden sie unter ihrer Sensitivität?

Das kann man so nicht sagen. Es kommt ganz auf die Umgebung und die Lebensgeschichte an. Gewisse sensitive Menschen leider mehr in schwierigen Situationen, aber es geht ihnen auch besser als anderen in einem positiven Klima.

Was tut Hochsensiblen gut?

Viel Zeit für Erholung ist wichtig. In Schulen können Lärmschutz- oder Kopfhörer sowie längere Mittagspausen hilfreich sein. Eine gute soziale Umgebung ist ebenfalls zentral. 

Weshalb?

Weil Hochsensitive ihre Umgebung in all ihren Aspekten viel intensiver wahrnehmen und sie viel mehr darüber nachdenken als andere. So schadet ihnen ein negatives Umfeld ungleich mehr.

«Nicht jedes hochsensible Kind entwickelt zwingend Probleme.»

Michael Plüss, Entwicklungspsychologe.

Was ist, wenn hochsensible Kinder in einem negativen Umfeld aufwachsen? 

Hochsensible Kinder, die sich weniger unterstützt und verstanden fühlen, erleben eher depressive, psychosomatische oder stressbedingte Symptome. Das heisst aber nicht, dass jedes hochsensible Kind zwingend Probleme entwickelt.

Wie empfinden Kinder Hochsensitivität?

Sie empfinden diese vielleicht eher als negativ, sind schneller gestresst oder überwältigt. Diese Kinder sind sich oft nicht bewusst, dass ihre Sensitivität auch viele positive Eigenschaften hat, dass sie etwas haben, worüber andere nicht verfügen, wie etwa eine ausgeprägte Empathie oder ein grosses kreatives Potenzial. 

Wie kann man ihnen helfen?

Wie Kinder ihre Hochsensitivität wahrnehmen, hängt auch vom Umfeld ab. Wenn das Kind beispielsweise gestresst an den Hausaufgaben sitzt, könnte man als Mutter oder Vater sagen: «Du bist schneller gestresst als andere, das stimmt. Aber vielleicht verstehst du ein Thema, eine Aufgabe auch besser, wenn du dich damit beschäftigt hast?» Es ist ratsam, das Kind dahingehend zu begleiten, dass es auch die positiven Aspekte seiner Ausprägung wahrnimmt. Es ist wichtig, ihm bewusst zu machen, dass seine Eigenschaft auch eine Stärke ist, nicht nur eine Schwäche.

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