«Herr Calabrese, wie erkennt man einen MS Schub?» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Herr Calabrese, wie erkennt man einen MS Schub?»

Lesedauer: 2 Minuten

Im Schnitt sind minderjährige MS-Patienten 13 Jahre alt, wenn die Krankheit bei ihnen erkannt wird. Sind Mädchen öfters betroffen als Jungen? Mediziner Pasquale Calabrese gibt Auskunft.

Herr Calabrese, wie häufig tritt Multiple Sklerose bereits im Kindesalter auf?

Die Diagnose wird in rund 10 Prozent der Fälle vor dem 20. Lebensjahr gestellt. Meistens befinden sich die Patienten in der Pubertät, im Schnitt sind sie etwa 13 Jahre alt. Ausserdem sind mehr Mädchen betroffen. Man geht davon aus, dass dieser Geschlechterüberhang genetisch mitbedingt ist, denn er zeigt sich auch bei erwachsenen MS-Patienten. Dort ist das Verhältnis beinahe zwei zu eins.

«MS wird häufig zu spät diagnostiziert.»

Mediziner Pasquale Calabrese

Das ist nicht wenig. Trotzdem ist kaum bekannt, dass die Krankheit bereits bei Minderjährigen auftritt. Warum?

MS kaschiert sich oft hinter alterstypischen Erscheinungen. Ein typisches Symptom wie eine Entzündung des Sehnervs kann bei Kindern auch ganz andere Ursachen haben – zum Beispiel eine Allergie. Auch Müdigkeit ist ein typisches Symptom für MS, bei heranwachsenden Jugendlichen aber ganz normal. Kommt hinzu, dass sich Kinder viel besser von Schüben erholen als Erwachsene. Auf den ersten Schub folgt oft eine lange behinderungsfreie Krankheitsphase. Aus diesen Gründen wird MS häufig zu spät diagnostiziert.

Mit welchen Folgen?

Allgemeine Prognosen lassen sich nicht anstellen. Sicher ist: Je früher therapiert wird, desto besser ist die Chance, dass es nicht oder erst viel später zu einer relevanten Behinderung kommt. Allgemein gilt, dass bei Kindern oft bis zu 20 Jahre vergehen, bis es zu bleibenden Beeinträchtigungen kommt, während dieser Zeitraum bei Erwachsenen nur etwa die Hälfte beträgt. Das gilt aber nicht für sogenannte Risikopatienten. Von solchen spricht man, wenn bereits in den ersten Krankheitsjahren Behinderungen sichtbar werden oder eine hohe Schubfrequenz feststellbar ist.
Prof. Dr. Pasquale Calabrese leitet die Arbeitsgruppe Neuropsychologie und Verhaltensneurologie der Universität Basel. Er forscht zu MS bei Kindern und Jugendlichen, berät aber auch betroffene Familien. Er ist zudem als Berater für die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft tätig.
Prof. Dr. Pasquale Calabrese leitet die Arbeitsgruppe Neuropsychologie und Verhaltensneurologie der Universität Basel. Er forscht zu MS bei Kindern und Jugendlichen, berät aber auch betroffene Familien. Er ist zudem als Berater für die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft tätig.

MS verläuft in Schüben. Wie erkennt man solche?

Häufig sind Sehnerventzündungen. Sichtbare Symptome sind zudem Gleichgewichtsstörungen oder Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen, was eine verminderte Gehfähigkeit zur Folge hat. Fast noch problematischer sind unsichtbare Symptome: Gedächtnis-, Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsprobleme. Auch Depressivität oder Sprachstörungen gehören dazu.

Welche Folgen haben diese kognitiven Störungen für schulpflichtige Kinder?

Betroffene Kinder haben Schwierigkeiten, den Schulstoff aufzunehmen oder abzuspeichern. Möglicherweise braucht das Kind also mehr Pausen oder einen Nachteilsausgleich bei Prüfungen. Für solche Anpassungen sowie für eine gezielte Förderung ist eine Allianz von Kindern, Eltern, den Neuropädiatern und den betroffenen Schulpädagogen nötig. Das passiert leider noch viel zu wenig. 
Multiple Sklerose kann unter anderem zu Konzentrationsschwierigkeiten führen.
Multiple Sklerose kann unter anderem zu Konzentrationsschwierigkeiten führen.

Kann es auch ein Nachteil sein, Freunde und Schule zu informieren? 

Stigmatisierung und Diskriminierung kommen vor. Jugendliche befinden sich in einer Phase, in der sie sich mit sich selbst und ihren Peers auseinandersetzen. Sie wollen dazugehören. Die Krankheit kann hier grosse Rückschläge zur Folge haben: im Sport, beim Disco-Besuch, beim Kennenlernen von Mädchen oder Jungs. Aus diesen Gründen empfehle ich eine altersadäquate psychologische Begleitung oder Beratung als Ergänzung zur medikamentösen Therapie.

Welche Schwierigkeiten ergeben sich für betroffene Eltern?

Für Eltern ist es eine Gratwanderung zwischen Unterforderung und Überforderung. Viele tun sich schwer damit, trotz der Erkrankung gewisse autoritäre Ansprüche geltend zu machen wie die Einhaltung von Zeiten oder Ordnung. Ist die Erschöpfung krankheitsbedingt oder ist das Kind zu faul? Um solche Fragen besser einschätzen zu können, ist eine Beratung auch für betroffene Eltern empfehlenswert.

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