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Geben Sie Ihrem Kind fünf Minuten

Lesedauer: 4 Minuten

Ein Kind leistet oft grundsätzlichen Widerstand gegen die Erwartung, dass es gehorchen soll. Beugen Sie Machtkämpfen und endlosen Verhandlungen vor, indem Sie ihm die Chance lassen zu kooperieren.

Nimm dir fünf, «Take five», ist ein geflügeltes Wort, das im englischsprachigen Raum ausdrückt: Nimm dir eine kurze Pause. Meine Empfehlung an Eltern und Lehrpersonen: «Take five und give five» – nehmen Sie sich eine Pause und geben Sie Ihrem Kind eine Pause. Und zwar dann, wenn Sie wollen, dass es etwas tut oder aufhört, etwas zu tun, und es dabei Widerstand leistet. Geben Sie ihm fünf Sekunden, Minuten, Stunden, Tage oder sogar Wochen, um Ihr Anliegen zu überdenken, und Sie werden mit mehr Kooperation belohnt, als Sie sich je erträumt haben.

Wie in Unternehmen haben sich die Machtstrukturen auch in der Familie im Laufe der letzten ­Generation verändert.

In der Zeit, als autoritäre Einstellungen und Verhaltensweisen von Erwachsenen die Regel waren, sagten Eltern Folgendes: «Räum diese Unordnung auf! Und ich meine jetzt!» – «Häng den Mantel auf, wo er hingehört … und zwar sofort!» Die Sprache, die Körperhaltung, die Stimme und der Blick verlangten absoluten und unmittelbaren Gehorsam. Auf jede Verzögerung folgten Sanktionen. Ein «gutes» Kind zu sein, basierte auf der Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen und seinen Willen Autoritäten unterzuordnen.

Wie in Unternehmen haben sich die Machtstrukturen auch in der Familie im Laufe der letzten Generation aber verändert. Die Ziele der Erziehung sind andere geworden: Zum einen geht es heute darum, die Kindheit als einen glücklichen und kreativen Teil des Lebens zu gestalten. Zum anderen darum, ein Maximum an mentaler und psycho­sozialer Gesundheit für junge Erwachsene zu erreichen.

Um dabei erfolgreich zu sein, müssen wir die Aufmerksamkeit auf die persönliche Integrität eines Kindes legen, und zwar so, dass es so viel wie möglich darüber lernen kann, wer es als Individuum ist, welches seine Bedürf­nisse, Gefühle und Grenzen sind und wie es seine menschliche sowie moralische Integrität schützen kann.

Kinder leisten Widerstand

Es gibt immer wieder Situationen im Leben, in denen wir in der Lage sein sollten, uns einer Autorität zu unterstellen. Aber wir sollten so frei wie möglich sein, diese Autorität selber auszuwählen, und es muss möglich sein, einen Dialog zwischen Disziplin und unserer eigenen inneren Stimme zu etablieren – zwischen Kooperation und Integrität. Dies war schon immer der Wunsch und das Bedürfnis der Kinder. Aber in Zeiten, in denen Autorität übermächtig war, blieb den meisten von ihnen eigentlich nur eines: ihre persönliche Integrität und Würde aufzugeben.

Auch heute erleben wir es noch, dass Kinder als obstruktiv, trotzig und rebellisch bezeichnet werden, wenn sie ihre persönliche Integrität zu schützen versuchen, indem sie nein zu Disziplinierungen und Befehlen sagen. Da Kinder mit wenig Erfahrung und aktivem Wissen darüber geboren werden, was in ihrem eigenen besten Interesse ist, gelten ihre Einwände weniger dem Inhalt von dem, was die Erwachsenen von ihnen wollen oder nicht wollen: Sie leisten grundsätzlichen Widerstand gegen die Erwartung, dass sie gehorchen, sowie gegen den Verlust ihrer Würde.

Zum Schutz der kindlichen Würde

Neulich verbrachte ich ein paar Wochen mit meinem sechsjährigen Enkel und seinem gleichaltrigen Freund und erhielt dabei viele Beispiele dafür, wie diese Kinder versuchten, ihre Integrität zu wahren. Drei davon:

«Alex, ich gehe einkaufen und möchte, dass du mitkommst.»

«Nein, ich bin am Spielen!»

«Das sehe ich, aber ich hatte irgendwie gehofft, ein wenig Zeit mit dir zu verbringen.»

Kein Kommentar. Aber zehn Minuten später, als ich zum Auto gehe, sagt eine glückliche Stimme:

«Opa, kann ich mitkommen?»

«Sicher! Ich bin froh, dass du die Zeit dafür gefunden hast.» «Alex, ich möchte deine Zähne putzen, bevor wir in einer halben Stunde an den Strand gehen.»

«Ich will nicht, dass meine Zähne geputzt werden, wenn ich in den Ferien bin!»

«Das ist ein guter Punkt – aber es muss getan werden. Lass mich wissen, wenn du bereit bist.»

Er läuft weg, um zu spielen. Fünf Minuten, bevor wir gehen, sagt er:

«Okay, wenn es sein muss, will ich es jetzt machen.» Die beiden Buben geniessen das Privileg, länger aufbleiben zu dürfen und sehen sich einen Zeichentrickfilm an.

«Okay, Jungs – es wird Zeit, in die Betten zu hüpfen.»

«Können wir es nicht noch einmal schauen? Es ist so lustig Du kannst auch mitschauen!»

«Danke, ich mag nicht. Ihr dürft aber noch 15 Minuten schauen.»

15 Minuten später bin ich zurück. Beide schauen mich an und sagen:

«Was, schon?!»

«Ja, schon!»

«Okay fünf Minuten noch,  bitte?»

«Nein!»

«Okay, na gut.»

Sie schalten den DVD-Player aus und planen bereits, was sie tun werden, wenn sie am nächsten Morgen aufwachen.

Kinder ernst nehmen

Antwort – auch nach fünf Minuten. Dann müssen Sie entscheiden, was zu tun ist. Sie können sagen: 

«Okay, ich habe dich verstanden, aber ich will nicht warten. Ich will es jetzt machen.»

«Okay, ich habe dich verstanden, aber wir müssen gleich aus dem Haus. Gibt es eine Chance, dass du deine Meinung änderst?»

«Okay, ich will hören, warum du nicht willst.»

Dieses Prinzip hat nichts mit Demokratie oder dem Recht des Kindes zu tun, zu entscheiden, ob es Zähne putzt, in den Kindergarten oder ins Bett geht. Es ist ein viel existenzielleres Prinzip, das dem Schutz der Integrität des Kindes und seiner persönlichen Würde dient und wodurch das Kind lernt, mit Rücksicht auf andere Menschen zu handeln.

Ein Kind, das respektvoll behandelt wird, ist ein gesundes und selbstbewusstes Kind.

Das Prinzip, Kindern nicht um jeden Preis unseren Willen aufzuzwingen, basiert auch auf der Erfahrung, dass Menschen ganz allgemein viel kreativer und flexibler werden, wenn man sie ernst nimmt. Es beugt ganz einfach Machtkämpfen und endlosen Verhandlungen vor.

Aber, und hier liegt eine Falle: Es klappt nur, wenn es aus Ihrem ehrlichen Respekt für die kindliche beziehungsweise menschliche ­Würde und Integrität heraus kommt. Es funktioniert nicht als Methode, um zu bekommen, was man will. Wenn Kinder als Objekte behandelt werden, neigen sie dazu, sich zu wehren. Und wenn sie manipuliert werden, antworten sie mit Manipulation.

Ein Kind, das mit der Erfahrung aufwächst, ernst genommen und respektvoll behandelt zu werden, und das lernt, der Weisheit und Erfahrung seiner Eltern sowie anderer Erwachsener vertrauen zu können, ist ein gesundes Kind mit Zugang zu seinem innersten Selbst und mit Selbstdisziplin. Kurz: Es läuft weniger Gefahr, irgendwann ein Opfer von irgendetwas oder irgendjemandem zu werden.

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

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