Mit Büchern durch die Krise - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Mit Büchern durch die Krise

Lesedauer: 7 Minuten

Geschichten sind für Kinder mehr als nur gute Unterhaltung, sie können heilsam sein. Die richtigen Bücher helfen, Entwicklungsschritte leichter zu nehmen und schwierige Situationen besser zu bestehen.

Meine erste bibliotherapeutische Erfahrung machte ich mit elf Jahren. Wobei ich damals natürlich nicht wusste, was das sperrige Wort überhaupt bedeutete. Und ich war mir auch des heilsamen Effekts durch das Lesen kein bisschen bewusst. In meiner kindlichen Wahrnehmung fühlte es sich einfach so an: Ich hatte mein Lieblingsbuch entdeckt. Ein Buch, das mich ungeheuer fesselte. Ein Buch, das mich zum Lachen brachte, mich begleitete, mich tröstete. So wie eine gute Freundin. «Gretchen Sack­meier», so der Titel von Christine Nöstlingers Jugendroman, trat in mein Leben, als ich eine wie sie gut gebrauchen konnte. Gretchens Eltern hatten sich getrennt. Ihre Mutter wollte ihr Leben neu ordnen. Ihre Geschwister nervten. Und Gretchen selbst steckte in der Pu­bertät, fühlte sich unförmig und unsicher. 

Kinder durchleben die Geschichte eines Buches so intensiv, als wären sie selbst Teil der Handlung.

Ich war in der gleichen Situation wie diese Romanfigur. Ob die Buchhändlerin in unserer kleinen Dorfbuchhandlung das ahnte, weiss ich nicht. Jedenfalls gab sie mir das Buch mit den Worten «Guck mal, das könnte was sein» und kaum ­hatte ich das Buch im Laden aufgeblättert, gab ich mein gesamtes Taschengeld für «Gretchen Sackmeier» aus. Es war Liebe mit dem ersten Satz, wenn man so will. Und vielleicht auch eine Rettung.

Die heilsame Wirkung von Büchern ist wissenschaftlich anerkannt

«Bücher haben die Macht, uns in eine andere Welt zu entführen und uns einen anderen Blickwinkel zu eröffnen. Die richtige Geschichte kann Trost spenden, Mut machen, den Spiegel vorhalten, Sinn stiften, Leidenschaften entfachen und sogar Krankheiten heilen», sagt Karin Schneuwly. Die Germanistin hat viele Jahre lang das Programm des Literaturhauses Zürich verantwortet, bevor sie die heilsame Wirkung von Büchern studierte. Heute arbeitet ­­­­­­sie als selbständige Lektorin und Lese­­therapeutin in Zürich.

Biblio- oder auch Lesetherapeuten wie Karin Schneuwly nutzen die heilsame Kraft von Sprache und Geschichten ganz gezielt: Sie wählen die passende Literatur aus und bringen dadurch Bewusstseins- oder sogar Heilungsprozesse in Gang. Studien aus Grossbritannien haben gezeigt, dass Patienten mithilfe von Lesetherapie ihre Medikamente reduzieren konnten. Weil lesende Patienten ruhiger und optimistischer sind, begannen Krankenhäuser im 19. Jahrhundert, Bibliotheken einzurichten.

In Skandinavien, den USA und Grossbritannien ist diese Kreativtherapie inzwischen weitverbreitet. Man kann sie an amerikanischen Universitäten studieren. In England können sich Patienten mit leichten Depressionen sogar Bücher auf Rezept verschreiben lassen.

Hierzulande ist diese Form von Therapie noch nicht so bekannt wie Kunst- oder Musiktherapie, aber sie ist eine anerkannte Therapieform, die man erst nach entsprechender Ausbildung ausüben darf. «Aber in gewisser Weise sind auch erfahrene Buchhändler oder Bibliothekare als Bibliotherapeuten tätig»,  sagt Ella Berthoud, Autorin des Nachschlagewerks «Die Romantherapie für Kinder».
Berthoud glaubt, dass bei Kindern der bibliotherapeutische  An­satz besonders gut funktioniert. «Die Wirkung von Literatur tritt bei Kindern viel unmittelbarer ein als bei Erwachsenen. Kinder durchleben die Geschichte eines Buches so intensiv, als wären sie selbst Teil der Handlung. Sie versetzen sich in die Hauptfigur hinein, meistern ge­meinsam bestimmte Anforderungen.»

Ella Berthoud hat in Cambridge zunächst Literatur studiert, sich dann therapeutisch weitergebildet und offeriert nun seit zwölf Jahren Bibliotherapie-Sitzungen an der von Alain de Botton gegründeten Londoner «School of Life». Zu ihr kommen auch viele Eltern und Familien zur Beratung, meist auf Initiative der Eltern. Das Alter ihrer Patienten beginnt bei knapp fünf Jahren. Berthoud fragt die Kinder nach Lieblingsbüchern oder -figuren. Sie fragt nach Freunden, schönen Erlebnissen, Ärgernissen oder Ängsten. Sie berät sich eventuell mit den Eltern. Dann wählt sie aus.

Die Nähe, die beim Vorlesen entsteht, vergisst ein Kind nie

Lesen können, ist kein Hindernis. Sie bekommen die Geschichten vorgelesen. Diese Situation ist sogar zu­sätzlich hilfreich, erklärt Lesetherapeutin Karin Schneuwly. «Diese Nähe beim Vorlesen oder beim Erzählen eines Bilderbuches wird ein Kind nie vergessen. Noch als Er­­wachsener erinnert man sich an die vorlesenden Eltern und ihre beru­higende Stimme.»

Das Wirkungsprinzip ist oft ganz einfach. Ein angespanntes, lautes Kind braucht vielleicht eine beruhigende Erzählung und ein schüchternes Kind ein Buch, das Mut macht, sagt Schneuwly. Eine Figur wie ­Pippi Langstrumpf macht vor, dass man ausbrechen und verrückt sein darf, dass die Regeln der Erwachsenen nicht unumstösslich sind. Eine ­Ronja Räubertochter zeigt, wie man sich seinen Ängsten stellt. Ein aufbrausendes Temperament bekommt in einem Buch über Wutmonster sein eigenes Verhalten gespiegelt. Der Effekt der Lektüre verblüfft und begeistert die Britin Ella Berthoud immer wieder: «Kinder wachsen innerlich mit den Büchern, die sie lesen.»

Auch meinem damals fünfjährigen Sohn half ein Buch in einer schwierigen Situation. Er war ziemlich nervös vor seiner ersten Übernachtung im Kindergarten. Eine ganze Nacht mit seinen Freunden und ohne seine Eltern: Das war aufregend und beängstigend zugleich. Ein paar Tage vorher setzten wir uns zusammen aufs Sofa, um ein Buch zu lesen, das mir unsere Erzieherin mitgegeben hatte. «Eine Dose Kussbonbons» (von Michael Gay) erzählt von einem kleinen Zebra, das ohne seine Eltern in ein Ferienlager fährt. Wie soll es ohne Gute-Nacht-Kuss einschlafen? Während wir die Ge­­schichte lasen, konnte ich beinahe hören, was mein Sohn dachte: Er war also nicht allein mit seinen Befürchtungen. Und das kleine Zebra hatte die Situation auch durchgestanden.
Als ich meinen Jungen am Morgen nach der Kindergarten-Übernachtung abholte, war er stolz. Er hatte uns vermisst, aber er hatte sich dicht an seinen besten Freund hingelegt – und war eingeschlafen.

Generell ersetzt eine Bibliotherapie keine Psychotherapie bei einer schwerwiegenden Störung, aber sie kann unterstützend wirken.
 
«Selbst Kinder, die etwas Traumatisches erlebt haben – wie zum Beispiel eine Flucht – können mithilfe von Literatur eine Sprache für ihr Erleben finden, die ihre Eltern oftmals nicht haben», sagt Karin Schneuwly. Die Lesetherapeutin hat eine Zeit lang an einem Schulhaus mit Kindern aus verschiedensten Ländern gearbeitet und dort auch die Erfahrung gemacht: «Als es um Geschichten aus der jeweiligen Heimat ging, hörten die Kinder sich gegenseitig zu. Literatur fördert auch die Toleranz für Andersartigkeit.»

Das Lesen muss Vergnügen machen

Unabhängig davon, ob es um solche alltäglichen Sorgen oder um tiefgreifende Probleme geht, bei der Auswahl der Bücher gilt: Das Lesen muss Vergnügen machen. Wer Spannung mag, will keine Beziehungsgeschichte – erst recht nicht, wenn er sie verordnet bekommt. «Kinder und Jugendliche haben ohnehin ein ganz gutes Gespür dafür, welches Buch sie brauchen könnten», sagt Silke Heimes. Sie ist Ärztin und leitet das Institut für Kreatives und Therapeutisches Schreiben an der Hochschule Darmstadt. Seit über zwanzig Jahren beschäftigt sie sich als Therapeutin und Autorin mit der heil­samen Kraft des Schreibens und Lesens. Je älter die Kinder würden, sagt sie, desto weniger wollten sie sich sagen lassen, was ihnen gut tut. «Das Einzige, was geht, ist etwas zu sagen wie: ‹Das Buch fand ich total cool. Kannst ja mal reingucken.›.» Die britische Bibliotherapeutin Ella Berthoud geht noch subtiler vor: «Für Teenager, die alle Empfehlungen von Erwachsenen vollkommen uncool finden, platziert man die Bücher irgendwie so, dass sie selbst darauf stossen können.»

Kinder und Jugendliche haben ein gutes Gespür dafür, welches Buch sie in welcher Situation brauchen könnten.

Sinnvoll ist dieser Versuch allemal. Gerade in der Pubertät können Bücher eine grosse Stütze sein. «Bei Jugendlichen sind viele Probleme schambesetzt», sagt Silke Heimes. «Die Teenager denken häufig, sie seien die einzigen, die mit bestimmten Dingen zu kämpfen haben, reden deshalb nicht darüber und fühlen sich sehr allein damit.» Bü­­cher können genau an diesem Punkt ansetzen: Zu sehen, dass die Hauptfiguren ähnliche Schwierigkeiten haben und meistern, kann enorm entlastend sein.

Mir ging es jedenfalls als 11-Jähriger so mit der Figur von «Gretchen Sackmeier». Sie  hatte Modellcharakter für mich. Ich verfolgte wie Gretchen litt, wie sie sich aufrap­pelte und schliesslich mit sich und den schwierigen Umständen zurechtkam. Sie half mir damit. Ich tat es ihr gleich.

In gewisser Weise investierte ich mein Taschengeld in das erste Coaching meines Lebens. Habe ich der Buchhändlerin jemals gesagt, wie gut ihre Wahl mir getan hatte? Vermutlich nicht. Aber ich habe in ihrem Laden noch sehr viele Bücher gekauft.


Wichtige Bücher für junge Leser

Welches Buch hilft ängstlichen Kindern und welche Geschichten spenden Trost, wenn die Eltern sich trennen? Bibliotherapeutin Ella Berthoud gibt Tipps. 

Mein Kind  

…ist ängstlich/tut sich mit Neuem schwer

Leon Lionni: «Swimmy». Beltz & Gelberg 1963, 32 Seiten, ca. 24 Fr., ab 5 Jahren.
Der kleine schwarze Fisch Swimmy entdeckt das weite Meer. Als er einem Schwarm ängstlicher roter Fische begegnet, zeigt er ihnen, wie man zusammen mutig ist. 

John Green: «Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken». Hanser 2017, 288 Seiten, ca. 30 Fr., ab 14 Jahren.
Aza leidet unter einer Angststörung. Trotzdem will die 16-Jährige ihre beste Freundin unterstützen, wächst über sich hinaus und sucht mit ihr nach einem verschwundenen Milliardär. 

…hat keine Freunde/findet schwer Anschluss 

Anne Holt: «Zwei kunterbunte Freundinnen. Das Chaos wohnt nebenan». Oetinger 2013, 128 Seiten, ca. 19 Fr., ab 6 Jahren.
Maibritt ist schrecklich schüchtern, ihre Nachbarin Märzbritt frech, abenteuerlustig und laut. Trotzdem werden die beiden Freundinnen.   

Raquel J. Palacio: «Wunder». Hanser 2013, 381 Seiten, ca. 29 Fr., ab 12 Jahren.
August ist seit seiner Geburt so oft am Gesicht operiert worden, dass er erst in der fünften Klasse eine Schule besucht. Erst fällt er wegen seines Aussehens auf und muss furchtbare Hänseleien ertragen, dann erkennen die Kinder seinen Mut und seinen Witz.
 
 …möchte nicht in die Schule 

Axel Scheffler/Agnès Bertron: «Frau Hoppes erster Schultag». Beltz & Gelberg 2019, 32 Seiten, ca. 12 Fr., ab 5 Jahren. 
Henriette Hoppe, die neue Lehrerin, ist vor ihrem ersten Schultag so nervös, dass sie sich am liebsten verstecken würde! Prompt verschläft sie, vergisst, ihr Nachthemd auszuziehen und hat furchtbares Herzklopfen Es wird trotzdem ein wunderbarer erster Schultag.

Anna Gavalda: «35 Kilo Hoffnung». TB bei Ars Edition 2007, 85 Seiten, ca. 9 Fr., ab 12 Jahren.
Der 13-jährige David ist nicht gerade ein Musterschüler. Zwei Mal ist er schon sitzen geblieben und keine Schule der Gegend möchte ihn mehr aufnehmen. Nur sein Opa Léon weiss, dass David viel mehr kann, als er glaubt – wenn er nur will. 

…erlebt eine Trennung/Änderungen im Familienalltag

Finn-Ole Heinrich: «Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt – Mein kaputtes Königreich». Hanser 2019, 176 Seiten, ca. 13 Fr., ab 10 Jahren.
Maulinas Welt ist aus den Fugen geraten: Sie muss die Trennung ihrer Eltern verdauen, einen Umzug schlucken und sich an einer neuen Schule zurechtfinden. Das ist nicht leicht, und Maulina ist wütend! Eine besondere Heldin – trotzig und voller Fantasie.

Alexandra Maxeiner/Anke Kuhl: «Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten». Klett Kinderbuch 2013, 32 Seiten, ca. 27 Fr., ab 5 Jahren.
In diesem Bilderbuch finden sich alle Formen des Familienlebens. Ein heiterer Zugang zur Neuordung des Alltags.


Julia Meyer-Hermann ist freie Journalistin und lebt in Hannover. Sie ist fasziniert davon, wie intensiv ihre Kinder, 12 und 6, sich auch bei Büchern oder Hörbüchern in die Emotionen der Figuren hineinversetzen und Situationen empathisch nachempfinden können.
Julia Meyer-Hermann ist freie Journalistin und lebt in Hannover. Sie ist fasziniert davon, wie intensiv ihre Kinder, 12 und 6, sich auch bei Büchern oder Hörbüchern in die Emotionen der Figuren hineinversetzen und Situationen empathisch nachempfinden können.


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