Frau Leibovici-Mühlberger, warum zweifeln Sie so an unserer Jugend? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Leibovici-Mühlberger, warum zweifeln Sie so an unserer Jugend?

Lesedauer: 3 Minuten

Immer mehr Jugendliche seien lebensuntauglich, sagt Martina Leibovici-Mühlberger. Ihr Buch «Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden» polarisiert. Die Jugendpsychotherapeutin will darin Eltern ermutigen, das Ruder herumzureissen.   

Frau Leibovici-Mühlberger, Sie sagen, Jugendliche seien für die Zukunft schlecht gerüstet. Woran hapert es? 

Wir stehen vor grossen gesellschaftlichen Herausforderungen. Unsere Kinder werden einst noch mehr Entscheidungsverantwortung tragen müssen als wir heute. Das verlangt nach integrierten und stabilen Persönlichkeiten. Doch immer mehr Jugendliche wollen lieber chillen, statt etwas zu leisten, sind egozen­trisch, wehleidig und voller Widerstand.

Kein gutes Zeugnis, das Sie der Jugend ausstellen.

Nun, ich begegne auch vielen jungen Menschen, die mich beeindrucken. Sie handeln sozial und verantwortungsbewusst, sind reflektiert und vorausschauend. Ich sage nicht, dass die Jugendlichen, um die es in meinem Buch geht, die Mehrheit ihrer Altersgruppe repräsentieren. 

Dann kann es ja nicht so schlimm sein.

Es reichen ein paar, die herumhampeln, um ein Boot zum Kentern zu bringen. Wir können uns Querschläger begrenzt leisten. Was ich in meiner Praxis und im Austausch mit Berufskollegen erfahre, legt aber nahe, dass die Zahl sogenannt verhaltensorigineller Jugendlicher steigt. Ich kann ihren Widerstand nachvollziehen. Sie sind einer Erziehungslüge auf den Leim gegangen, das kränkt sie.
Martina Leibovici-Mühlberger, 57, ist Gynäkologin und Jugendpsychotherapeutin mit eigener Praxis in Wien. Sie leitet die ebenfalls dort ansässige ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH und ist unter anderem Mitglied der Workinggroup on the Quality of Childhood im EU-Parlament. Bild: zVg
Martina Leibovici-Mühlberger, 57, ist Gynäkologin und Jugendpsychotherapeutin mit eigener Praxis in Wien. Sie leitet die ebenfalls dort ansässige ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH und ist unter anderem Mitglied der Workinggroup on the Quality of Childhood im EU-Parlament. Bild: zVg

Einer Erziehungslüge?

Ja. Viele Eltern nehmen ihren Erziehungsauftrag nicht wahr. Sie wollen ihre Kinder nicht anleiten, sondern sehen sich als deren Steigbügelhalter. Sie haben dieses infantil anmutende, narzisstische Ideal der Freiheit, wo Individualität und freie Entfaltung oberste Maxime sind. Priorität hat für die Eltern, dass sie keinen Untertan erziehen, sondern einen freien Geist. 

Was ist daran falsch?

Die Eltern vermitteln dem Nachwuchs, dass er stets die Wahl hat. Ihren eigenen Auftrag sehen sie  darin, die Kinder mit Aktivitäten zu fördern und sie mit Konsumgütern auszustatten. Spleens oder Fehlverhalten ihrer Kinder werten sie gerne als Zeichen von deren Individualität. Dabei übersieht man grosszügig die eigentliche Problematik: Das Kind hat die Orientierung verloren, weil ihm niemand Grenzen aufzeigt. Später wird es den Preis dafür zahlen. 

Inwiefern?

Als Jugendlicher knallt es in einer Realität auf, die seine Eltern nicht mehr kontrollieren können. Das Kind ist nicht vorbereitet auf die Steigerungsgesellschaft, in der nicht freie Entfaltung, sondern Leistung zählt. Es begreift, dass es in die verkehrte Richtung gelaufen ist, weil jemand die Schilder falsch aufgestellt hat. Darum sage ich: Lügt eure Kinder nicht an!

Woran mangelt es diesen Jugendlichen?

Sie verfügen über wenig Selbstkontrolle und Einfühlungsvermögen, ein strukturiertes Vorgehen ist ihnen oft unmöglich. Sie haben nicht gelernt, Bedürfnisse aufzuschieben, ihnen fehlen Kompetenzen, die für ein wirtschaftliches Überleben relevant sind. Und dann wenden sich auch noch ihre engsten Verbündeten gegen sie. 

Jugendliche hören jahrelang wie einzigartig sie sind und plötzlich werden dann Forderungen an sie gestellt.

Martina Leibovici-Mühlberger

Die Eltern?

Ich therapiere viele Jugendliche, die jahrelang gehört haben, wie einzigartig sie sind, bis ihnen die Eltern die Rechnung präsentierten: Schau nur, was wir für dich getan haben! Der Aufwand soll nicht umsonst gewesen sein. Plötzlich stellen die Eltern Forderungen, das sind die Jugendlichen nicht gewohnt. Sie antworten mit Verweigerung. Und sie sind nicht bereit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. 

Und ihre Eltern sind Schuld daran.

Eltern orientieren sich lediglich an dem, was uns die Gesellschaft als Königsweg vorgibt: Mach das Maximum aus deinem Leben, verwirkliche dich! Dieses narzisstische Ideal ist schillernd, aber voller Doppelbödigkeiten. Das Kind soll sich nach eigenem Gutdünken verwirklichen, muss aber gleichzeitig als Gradmesser für den Erfolg der Eltern herhalten. Die Freiheit des einen hört nicht mehr da auf, wo die des anderen beschnitten wird. Wir haben die Ich-AG als Maxime zur Glückseligkeit erhoben. Mütter und Väter haben es schwer heutzutage.

Können sie überhaupt noch etwas ausrichten?

Wir können das Ruder herumreissen, indem wir Verantwortung für unsere Kinder übernehmen und aufhören, sie zur Bequemlichkeit zu erziehen. Denn Kinder brauchen einen wachen Geist in einer Gesellschaft, die sie vor allem als Konsumenten betrachtet und umwirbt. Wenn wir Kindheit als schützenswert erachten, müssen wir den Er­­fahrungsvorsprung, den wir gegenüber unseren Kindern haben, auch nutzen. Sonst schaden wir ihnen. Da ist es kein Wunder, dass sich viele Jugendliche emotional von ihren Eltern abwenden. 

Studien besagen eher das Gegenteil, orten eine starke Nähe.

Ausschlaggebend ist, wie wir diese Nähe definieren: Geht es um die Ressourcen- oder um die Beziehungsebene? Das wird gerne vermischt. Bedeutet Nähe, dass man praktischerweise zu Hause wohnen bleibt, oder geht es um emotionale Nähe? Viele Jugendliche beschreiben die Beziehung zu den Eltern als gut, solange diese sie in Ruhe lassen. Mich interessiert die Beziehungskultur: Pflegt man einen Austausch, Rituale? Das ermöglicht ein differenzierteres Bild.

Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie aus Extremfällen auf die Allgemeinheit schliessen.

Ich beziehe mich in meinen Aussagen nicht nur auf meine Arbeit als Psychotherapeutin, ich bilde auch Lehrpersonen weiter. Deren Rückmeldungen sind nicht minder aufrüttelnd. Wenn mir, wie unlängst, eine Wiener Oberstufenschuldirektorin sagt, dass 20 Prozent der Schulabgänger beruflich nicht unterkommen werden, weil es ihnen an Im­­­pulskontrolle mangelt, sie schnell gekränkt und Selbstorganisation nicht gewohnt sind, ist das alarmierend.

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Dieser Text erschien im Rahmen unseres Dossiers zum Thema Jugend 2016.