Herr Bauer, warum reagieren Kinder aggressiv?
Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer erklärt, wann sich Kinder aggressiv verhalten, welche Rolle die Medien spielen und warum Männer mehr Gewalttaten begehen als Frauen.
Herr Bauer, wie definieren Sie Aggression?
Als Aggression wird ein Verhalten bezeichnet, welches darauf gerichtet ist, einem anderen Menschen etwas zu sagen oder zuzufügen, was von diesem als Konfrontation, als unangenehm oder als schmerzhaft erlebt wird.
Ist ein gewisses Aggressionspotenzial angeboren?
Aggression ist ein angeborenes Verhaltensprogramm, das abgerufen werden kann. Die Fähigkeit, bei Bedarf aggressiv sein zu können, ist überlebenswichtig. Aber aus neurobiologischer Sicht gibt es keinen sogenannten Aggressionstrieb, also keine biologisch verankerte Lust auf physische oder psychische Gewalt. Die Aggression und die Angst sind Geschwister – sie benützen im Gehirn ganz ähnliche neuronale Systeme. Niemand würde von einem «Angsttrieb» – also einem Bedürfnis nach Angst – sprechen, nur weil fast alle Menschen immer wieder Angst erleben.
Wenn es nun aber gesunden Menschen zuwider ist, anderen Leid zuzufügen – ist dann jeder Verbrecher ein Psychopath? Und hat jedes Kind, das sich prügelt, ein psychisches Problem?
Nein. Dass es keinen Aggressionstrieb gibt, bedeutet nicht, dass gesunde Menschen keine Aggression zeigen. Ein Aggressionstrieb, so wie ihn sich Sigmund Freud vorgestellt hat, würde aber bedeuten, dass es zum normalen Bedürfnisprogramm ganz normaler Menschen gehört, anderen ab und zu einmal – ohne jeden Anlass – Böses zuzufügen oder immer wieder einmal einen Krieg zu führen. Diese Annahme ist falsch. Jede Aggression hat Gründe ...
Wann verhalten sich Kinder aggressiv?
Immer dann, wenn ein anderer im Weg steht. So zum Beispiel ein 3-Jähriger, der ein Geschwisterchen bekommt, das nun die ganze Aufmerksamkeit abzieht. Oder wenn knappe Ressourcen verteilt werden, also zum Beispiel wenn ein Kuchen aufgeteilt wird, oder wenn nicht alle das gleiche attraktive Spielzeug haben können. Wenn ein Kind von einem anderen dann geschubst oder geschlagen wird, entstehen schnell Aggressionskreisläufe. Genauso läuft es auch zwischen Staaten, die nicht aus Konflikten herausfinden.
Aggressionen werden durch das Tangieren der neurobiologischen Schmerzgrenze ausgelöst. Was genau ist das?
Sicherster und zuverlässigster Auslöser für Aggression ist die Zufügung körperlicher Schmerzen. Dazu braucht es nicht einmal einen anderen Menschen. Schauen Sie, welche Wut in Menschen aufsteigt, wenn sich jemand – ohne fremdes Zutun – den Finger richtig böse in einer Tür eingeklemmt hat! Die Schmerzzentren des Gehirns werden aber nicht nur dann aktiviert, wenn uns körperlich wehgetan wird, sondern auch dann, wenn wir sozial zurückgewiesen, ausgegrenzt oder unfair behandelt werden. Auch dann ist unsere Schmerzgrenze erreicht. Wo diese genau liegt, ist aber sehr individuell.
Jeder Mensch muss lernen, dass aggressive Gefühle in sich zu spüren und sich aggressiv zu verhalten, zwei Schritte sind.
Wenn Aggression immer eine Reaktion auf etwas ist, heisst das, dass Täter immer auch Opfer sind oder waren?
Ja, aber das entschuldigt nichts. Der Mensch hat von der Evolution nicht nur einen Aggressionsapparat mitbekommen, sondern auch ein Stirnhirn, das ihn in die Lage versetzt, sich selbst zu beobachten und sich zu bremsen, wenn es das soziale Zusammenleben erfordert. Diese Fähigkeit, die wir durch Erziehung erlernen, war unser evolutionäres Erfolgs ticket. Ohne Erziehung kann das Stirnhirn nicht in Funktion kommen. Erziehung ist also keine kontrabiologische Erfindung, sondern gehört zur biologischen Bestimmung des Menschen. Der Mensch muss lernen, dass aggressive Gefühle in sich zu spüren und sich aggressiv zu verhalten, zwei Schritte sind.