Unsicher in Sachen Erziehung? Ein gutes Zeichen! -
Merken
Drucken

Unsicher in Sachen Erziehung? Ein gutes Zeichen!

Lesedauer: 4 Minuten

Sie wissen oft nicht so recht, ob Sie Ihre Kinder gut erziehen? Dann sind sie vermutlich auf dem richtigen Weg, sagt Psychologe Fabian Grolimund.

Viele Eltern fühlen sich heute unsicher im Umgang mit ihren Kindern. Wir stellen uns Fragen und uns selbst infrage: «Wie soll ich meinem Kind Grenzen setzen? Wie gehen wir mit dem Thema Medienkonsum um? Wie offen sollen wir als Eltern sein? Wie begleiten wir das Kind gut durch die Schulzeit? Was muss ich tun, um mein Kind auf die Zukunft vorzubereiten? Ab wann ist mein Kind alt genug, um in den Ausgang zu gehen? Habe ich richtig reagiert? Warum habe ich nicht mehr Geduld? Müsste ich auf eine gesündere Ernährung achten? Wo kann ich mein Kind machen lassen und wo muss ich eingreifen?»

Diese Verunsicherung wird von vielen als Schwäche ausgelegt: Die Eltern hätten heute ihre Intuition verloren, könnten sich nicht mehr auf ihre Instinkte verlassen, nicht mehr selbst denken und bräuchten für jeden Mist einen Ratgeber.

Wenn wir über Intuition sprechen, meinen wir damit oft angeborene Elterninstinkte. Diese sind beim Menschen jedoch relativ rudimentär ausgeprägt und betreffen vor allem den Umgang mit Säuglingen. Zudem ist unser instinktives Verhalten immer noch darauf ausgelegt, unsere Kinder auf ein Leben als Jäger und Sammler vorzubereiten.

Barbie-Drama im Supermarkt

Wenn unsere Kinder im Supermarkt toben, weil sie die neue Barbie wollen, zu lange am Smartphone hängen oder zu spät anfangen, für die Prüfung zu lernen, greift unser angeborenes Programm zu kurz.

Nehmen wir die erste Situation: Die 4-Jährige weint und kreischt im Supermarkt, weil sie die Barbie will. In dieser Situation wird unser Stresssystem aktiviert – wir sind als Eltern angespannt. Lassen wir uns von unseren Impulsen leiten, werden wir wahrscheinlich ungünstig reagieren.

Vielleicht empfinden wir in erster Linie Scham, weil andere uns angaffen. Das kann uns dazu verleiten, dass wir die Barbie kaufen – nicht, weil wir das sinnvoll finden, sondern weil wir diese unangenehme Situation möglichst rasch beenden wollen. Vielleicht schiebt sich auch die Wut in den Vordergrund und sorgt dafür, dass wir das Kind anbrüllen oder ihm die kalte Schulter zeigen und es einfach stehen lassen und weggehen. Vielleicht machen wir es uns auch einfach und lügen das Kind an: «Ich habe nicht genug Geld dabei.»

Wenn das Kind schreit, sollen wir uns einfühlend verhalten. Dafür müssen wir unsere eigenen Emotionen kontrollieren können.

Eine reife Reaktion würde beispielsweise darin bestehen, dass wir uns bewusst machen, dass ein Kind erst lernen muss, mit Frust umzugehen. Hat es einen drängenden Wunsch, ist es schwierig, sich davon zu lösen und die damit verbundenen Gefühle auszuhalten.

Als Elternteil könnten wir uns in das Kind einfühlen, es auf den Arm nehmen, ihm zugewandt bleiben und seine Gefühle verbalisieren – «Ich weiss, das hättest du jetzt sehr gerne» –, während wir weitergehen, das Weinen aushalten und die Barbie nicht kaufen. Dabei müssen wir unsere eigenen Emotionen regulieren im Wissen, dass es dem Kind langfristig besser gelingt, sich zu beruhigen, wenn wir selbst ruhig bleiben. Diese kompetente Reaktion verlangt uns als Eltern unheimlich viel ab. Das merken wir daran, dass es uns nicht mehr gelingt, sobald wir selbst zu gestresst, müde oder gereizt sind.

Unsicherheit kann gesund sein!

In diesen Situationen können wir uns nicht auf Instinkte verlassen, sondern höchstens auf Intuition. Mit Intuition ist in diesem Sinne aber Erfahrungswissen gemeint. Kompetent zu reagieren fällt denjenigen Menschen leichter, die oft Gelegenheit hatten, diesen Umgang mit Kindern bei anderen hautnah mitzuerleben. Sei es, weil ihre eigenen Eltern auf diese Weise reagiert haben, oder sie oft miterleben konnten, wie andere auf diese Weise mit Kindern umgehen.

Für alle anderen ist es harte Arbeit. Sie müssen nicht nur gegen ihre ersten Impulse angehen, es fühlt sich für sie auch unnatürlich an. Und immer, wenn sich etwas neu und nicht natürlich anfühlt, tauchen Unsicherheiten auf. Wenn wir im Umgang mit unseren Kindern den Anspruch haben, zu einer eigenen Haltung zu finden, uns zu reflektieren und eigenen Werten Rechnung zu tragen, müssen wir uns auf die Suche machen und die eigene Unsicherheit aushalten.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir heute keine gültige Lehrmeinung mehr haben, was gute oder sogar richtige Kindererziehung ausmacht. Stattdessen finden wir zu scheinbar einfachen Themen wie Schlafen, Umgang mit Trotz oder Medienkonsum ein Meer an Empfehlungen, die zum Teil widersprüchlicher nicht sein könnten.

Dies ist deshalb der Fall, weil auch Experten ein bestimmtes Wertemodell vertreten und ein Ideal bzw. Zielvorstellungen in Bezug auf den Menschen und seine Entwicklung haben. Dabei stehen viele Werte in einem Spannungsverhältnis, beispielsweise Anpassung und Selbstbestimmung. Solche Werte bilden oft ein Kontinuum, wobei Fachpersonen insbesondere dann für die Medien interessant sind, wenn sie Extrempositionen vertreten und etwa fordern, dass sich Kinder anzupassen hätten oder man die Selbstbestimmung des einzelnen Kindes über alles stellen soll. Dabei wird selten transparent gemacht, auf welchem Wertesystem die jeweilige Meinung aufbaut. 

Kontrollfrage für Experten-Ratschläge: Würde ich mir wünschen, dass diese Person Lehrperson meiner Kinder wird?

Wenn wir Erziehungsratgeber lesen, werden wir keine abschlies­sende Antwort darauf erhalten, was richtig oder falsch ist. Stattdessen sollten wir in uns hineinhorchen und uns fragen, ob diese Autorin oder jener Experte Werte und Ziele vertritt, mit denen wir uns identifizieren können. Mir selbst hilft für eine grobe Einschätzung oft die Frage: «Würde ich mir wünschen, dass diese Person nächstes Jahr die Lehrperson eines meiner Kinder wird?» Es ist nicht nur normal, dass wir uns oft unsicher fühlen. Es kann auch gesund sein!

Wir alle kennen Menschen, die auf alles eine einfache Antwort haben. Auffälliges Verhalten? Einfach mal hart durchgreifen! Klimawandel? Gibt es nicht, im April hat es geschneit. In der Psychologie spricht man vom Dunning-Kruger-Effekt und meint damit den Umstand, dass wir uns umso sicherer fühlen, je weniger Wissen und Kompetenzen wir in einem Bereich aufweisen. Wir überschätzen uns und registrieren nicht, dass andere besser Bescheid wissen.

Dieser Effekt lässt sich sogar in einzelnen Lebensbereichen feststellen: Der Arzt regt sich darüber auf, dass einzelne Patienten glauben, nach einer kurzen Google-Recherche die bessere Diagnose stellen zu können als er. Am Abend bei der Fussballübertragung ärgert sich derselbe Arzt über den Idioten von Trainer und meint, viel besser zu wissen, wie dieser seinen Job machen müsste.

Unsicherheit bedeutet oft einen Fortschritt. Sie kann ein Zeichen dafür sein, dass wir uns bewusst werden, dass die Realität komplex ist, es keine abschliessenden Antworten gibt und wir uns unseren Weg suchen müssen – Umwege und Irrwege inklusive. Der Mensch ist vielschichtig, die Frage, was er werden soll und wie man ihn auf diesem Weg begleitet, eine Frage, die so gross ist, dass es vermessen wäre, mehr als ein paar gute Vermutungen anzustellen. 

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

Alle Artikel von Fabian Grolimund