«Zwei Wohnorte verunsichern ein Kind»
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Verträumt, unaufmerksam und unkooperativ – Die Mutter des neunjährigen Belas fragt sich, weshalb ihr Sohn sich so verändert hat. Und bittet Jesper Juul um Rat.
Ich lebe mit meinem neunjährigen Sohn Bela getrennt von seinem Vater. Wir haben uns getrennt, als unser Sohn vier alt war. Obwohl die Trennung sehr anstrengend verlief, waren wir uns in Bezug auf Bela meistens einig. Wir haben unsere Differenzen nicht über unseren Sohn ausgetragen.
Ich arbeite selbständig, drei Tage pro Woche ist das Kind bei einer Tagesmutter. Jeden Dienstagabend geht Bela zu seinem Vater und kommt am Donnerstag zurück. Die Wochenenden teilen wir auf. Jeden zweiten Samstag wohnt er bis Sonntag beim Vater. In den Ferien verbringt er zwei bis drei Wochen bei ihm, den Rest bei mir oder bei Verwandten.
Bela ist ein kreatives, offenes und flexibles Kind und hat ganz tolle Seiten. In der Schule bereiten ihm die Selbstorganisation und die Grafomotorik allerdings Schwierigkeiten, und es wurde bei ihm zudem eine Lese- und Schreibschwäche festgestellt.
« Kinder denken und betrachten viel langsamer als Erwachsene. »
Jesper Juul
In anderen Bereichen behandle ich ihn tatsächlich wie ein Kleinkind. Ich weiss nicht, wie o ich ihn schon gebeten habe, seinen Rucksack auszuräumen, die Schuhe nicht nass aufs Parkett zu stellen, die Hände mit Seife zu waschen (ich bin immungeschwächt), die Toilette zu spülen, das Geschirr abzuräumen. Doch ihm scheinen diese Dinge komplett egal zu sein. In Gedanken ist er ganz woanders.
Ich bestrafe ihn nicht dafür. Stattdessen renne ich hinter ihm her und predige. Das muss ihn unheimlich nerven. Mich nervt es auch.Über Konflikte und Gefühle zu reden, hasst er und versucht sich zu entziehen. Irgendetwas mache ich dabei wohl falsch.
Inzwischen haben wir ein gemeinsames Gespräche vereinbart, einmal die Woche. Ich habe Bela gesagt, dass ich ihm gerne zuhören und von ihm gehört werden möchte. Das fand er viel überzeugender als «ich will mit dir reden».
Wie kann ich unsere Beziehung und Situation ändern? Wie weiss ich, was ich ihm an Verantwortung übertragen kann, ohne ihn zu überfordern?
Jesper Juul antwortet:
Gegen Ende meiner Antwort werde ich Ihnen meine «Übersetzung» seines Verhaltens geben. Ich schlage vor, dass Sie ihm diese bei Ihrem nächsten Treffen vorlesen. Seine Reaktion darauf ist die ultimative Rückmeldung für uns alle.
Versetzen Sie sich in die Lage des Kindes
Ich schätze, dass diese Erfahrung einen Teil von Belas unangenehmen Gefühlen ausmacht und diese Reaktion hervorruft , wenn Sie mit ihm über Emotionen und Konflikte reden möchten.
Ein anderer Aspekt des Problems resultiert aus Ihrem Eifer und Ihrer Entschlossenheit, «Probleme» zu analysieren und zu lösen. Kinder denken und betrachten viel langsamer als Erwachsene. Oft ist es besser zu sagen: «Hör zu, ich habe über XY von heute Morgen nachgedacht und möchte wissen, was du darüber denkst. Bitte lass es mich wissen, sobald du weisst, was du sagen möchtest. Solltest du es vergessen, werde ich dich in ein paar Tagen wieder danach fragen.»
« Kinder nehmen zu viel Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Eltern. »
Ihren Sohn verstehe ich so: «Liebe Eltern, ich wünschte, ich könnte euch erzählen, wie hart es für mich ist, so zu leben, aber ich kann die Worte dafür nicht finden und ich habe Angst davor, dass ihr euch über mich ärgert, wenn ich es sage. Manchmal fühle ich mich wie ein viel kleineres Kind und benehme mich kindisch, und manchmal möchte ich einfach NEIN sagen und frech sein. Ich weiss, was ihr von mir erwartet, aber das ist zu viel. Ich bin erst neun Jahre alt.»
Mein Vorschlag ist, dass Sie ihm erzählen, was Sie mir geschrieben haben, und ihn fragen, ob er hören beziehungsweise lesen möchte, was meiner Meinung nach in seinem Kopf vorgeht. Wenn Sie und er gewillt sind, das zu tun, gibt es zwei Möglichkeiten:
- Meine Worte werden ihn bewegen, und er wird Ihnen erzählen, was Sie wissen müssen. Sie und sein Vater müssen dann einen oder zwei alternative Zeitpläne erarbeiten und ihn bitten, zu wählen. Bitten Sie aber NICHT ihn um alternative Vorschläge. Dies ist Ihr Job als Eltern. Erinnern Sie sich immer daran, wie extrem loyal er Ihren Bedürfnissen gegenüber ist.
- Er widerspricht mir. In diesem Fall müssen Sie von diesem Punkt aus weitergehen und Ihre Kreativität und Flexibilität nutzen, um die Bedürfnisse aller zu kombinieren.
Ich wünsche Ihnen viel Glück!
ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl. Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden.
Jesper Juul schreibt regelmässig exklusiv in der Schweiz für das Elternmagazin Fritz+Fränzi. Bestellen Sie jetzt ihr Abo!