Warum wir fliegen können - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Warum wir fliegen können

Lesedauer: 1 Minuten

Was es wirklich bedeutet, eine Familie zu sein. Eine Kolumne von Michèle Binswanger.

Gegen eine Geburt ist Science Fiction Kinderzeugs. Man betritt die Geburtsklinik als Paar, zwei mehr oder weniger unabhängige Menschen, die aus freiem Willen zusammengefunden und sich gedacht haben, dass ein Kind zu kriegen eine prima Sache ist. Und man verlässt die Klinik als Meta-Organismus, ein Gebilde aus drei existenziell voneinander abhängigen Persönlichkeiten, kurz Familie.
 
Familie. Anfangs ist dieses Wort der Inbegriff von Glückseligkeit. Mama und Papa gucken den ganzen Tag Baby, oder versenken ihre Blicke ineinander und lächeln still. Wenn Mama stillt, geht Papa einkaufen. Legt feierlich einen Laib Brot und eine Packung Bündnerfleisch in den Einkaufskorb und weiss, dass er für seine Familie auch notfalls ein Mammut mit blossen Händen erwürgen würde, jawohl! Die Tage vergehen, die Wochen, die Jahre. Und der Begriff Familie bekommt einen anderen Beigeschmack. Gut abgehangen möchte man sagen, oder gar ranzig. Familie bedeutet nun Einschränkung, Stress, Verpflichtung. Das passiert irgendwann um den Dreh herum, da man feststellt: Man befindet sich auf einem Flug durchs All mit ungewissem Ausgang. Die nächsten Jahrzehnte wird man damit zu tun haben, die Motoren mit Energie zu versorgen, die Systeme zu kontrollieren, damit der Shuttle nicht abstürzt. 

«Gegen eine Geburt ist Science Fiction Kinderzeugs.» 

Jeder ist dem anderen ein Schicksal und manchmal wundert man sich, wie das gehen soll, denn in dem ganzen Tohuwabohu kann man sich manchmal kaum daran erinnern, wer zum Teufel man eigentlich ist. Aber das spielt auch keine so grosse Rolle mehr. Was zählt ist die Rolle, die man in der Familie spielt. Eine Erkenntnis ist auf der Reise unvermeidlich. Der Mensch ist schwach und macht verdammt viele Fehler. Erstaunlich, dass er so etwas wie einen Raumflug überhaupt fertig bringt. Aber er hat eben auch geheime Kräfte. 

Meine Kinder lieben zum Beispiel Monsterquartett. Ein Spiel, in dem Monster gegeneinander antreten und sich in ihren unterschiedlichen Eigenschaften messen. Manchmal machen sie sich einen Spass daraus, unsere Familie als Ansammlung von Monstern zu denken. Die Tochter hat einen Klugscheiss-Faktor von 150. Der Vater einen Schimpfquotienten von 75 Prozent. Der Bruder einen Nerv-Faktor von 80. Die Mutter eine Giftspritzigkeit von 10.

Das spielten wir beim Abendessen. Als die Runde aufgehoben war und das Geschirr  zusammengestellt war, sagte der Sohn: «Aber es gibt auch einen Joker in diesem Quartett. Eine Karte, die alle anderen schlägt.» «Aha», murmelte ich, in Gedanken schon beim Abwasch. «Die Liebe», sagte der Sohn. Die Liebe ist unser Joker.» Ich umarmte ihn gerührt. Seither weiss ich, warum wir fliegen können.

© Tages-Anzeiger/Mamablog


Zur Autorin:

Michèle Binswanger. Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.