31. Juli 2017
So geht Charakterbildung
Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Lesedauer: 1 Minuten
Die Pfadi sei in der Krise, so liest man allenthalben. Die Organisation verliert Mitglieder, und zwar deshalb, weil sie im Widerspruch zum Zeitgeist stehe: Jugendliche zögen heute unverbindliche Freizeitaktivitäten vor, Erwachsene scheuten das ehrenamtliche Engagement, und Migrantenkindern sei das Pfadi-Konzept ohnehin fremd. Das ist jammerschade, aber kein Grund, seine Kinder nicht in die Pfadi zu schicken. Im Gegenteil. Schon zu meiner Zeit Ende der 80er-Jahre entsprach die Pfadi nicht dem Zeitgeist.
Pfadi bedeutet Freiheit und Abenteuer.
«Du besuchst eine paramilitärische Jugendbewegung?», schauderten meine Freunde, «in Uniform?» Aber die hatten keine Ahnung. Treffender erfasste es mein Vater, selber ehemaliger Pfader: «Allzeit bereit, zum Fressen und zum Streit. Das bildet den Charakter.» Nun sollten Kinder den Eltern, die ihren Charakter bilden wollen, grundsätzlich misstrauen. Ausser wenn sie dieses Vorhaben an die Pfadi delegieren. Und damit sozusagen ihnen selbst überlassen. Denn Pfadi bedeutet Freiheit und Abenteuer: der Initiationsritus der Taufe, einen eigenen Pfadi-Namen bekommen, Gruppen bilden, gegeneinander antreten, dann wieder zusammen Lieder singen – das machte vor allem Spass.
«Etwas mehr Charakter, Abenteuer und Freiheit würde uns allen guttun.»
Und dann das praktische Wissen: wie man mit einem Sack Mehl ein paar Tage im Wald überlebt, auf offenem Feuer kocht, per Morsealphabet kommuniziert und mit Karte und Kompass umgeht. Charakterbildung kam vor allem in den zweiwöchigen Sommerlagern nicht zu kurz: Zweitagesmärsche unternehmen und sich durchbeissen, auf einer Wiese biwakieren, tapfer den mit Wasser verdünnten Kakao schlucken und weiches Ruchbrot mit Erdbeermarmelade aus Jumbotöpfen bestreichen.
Und wenn der Gang zur fliegenverseuchten Latrine den Charakter nicht bildet, ist auch sonst nichts mehr auszurichten. Vor allem aber gehören die Lager zu meinen schönsten Jugenderinnerungen – abgesehen von der Latrine. Und nicht zuletzt dürften sich auch meine Eltern über die Freiheit gefreut haben, die Kinderbande im Sommer mal für zwei Wochen los zu sein. So gesehen widerspricht die Pfadi dem Zeitgeist keineswegs, sondern ist nötiger denn je: Etwas mehr Charakter, Abenteuer und Freiheit würde uns allen guttun.
Zur Autorin:
Michèle Binswanger ist studierte Philosophin, Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.
© Tages-Anzeiger/Mamablog
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