Wie Jesper Juul mein Leben veränderte
Bild: Franz Bischof
Die Gründerin des Schweizer Familylab Caroline Märki über ihre Begegnungen mit dem dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, der ihr Denken und Handeln prägte.
Ein Jahr später erlebte ich Jesper Juul zum ersten Mal live. Sein Vortrag trug den Titel «Grundsteine für die Familie». Jesper plädierte für mehr persönliche Verantwortung statt blindem Gehorsam, er sprach über Selbstgefühl, Integrität, Authentizität und Gleichwürdigkeit – seine Worte berührten mich tief. Jesper sprach mir aus dem Herzen.
Ich begann seine Ideen zu studieren und versuchte, die neuen Erkenntnisse und Zusammenhänge in meinen beruflichen und privaten Alltag zu integrieren. Das bessere Verständnis für die zwischenmenschlichen Prozesse führte dazu, dass ich mich und meine Liebsten besser kennenlernte.
Mehr und mehr gelang es mir, meine Eigenart und die meiner Familie und Freunde zu respektieren. Dadurch konnte ich mehr Verantwortung für meine Werte, meine Integrität und mein Handeln übernehmen; mein Selbstgefühl stieg, meine Lebensqualität verbesserte sich.
Ich erlebte zunehmend befriedigendere Beziehungen.
Mein Ziel des gleichwürdigen Zusammenseins war (und ist es noch heute) nicht das Erreichen von Harmonie im Miteinander, sondern das Verringern von destruktiven Konflikten. Die Gleichwürdigkeit gab mir ein Gefühl von Stärke; bei den Kindern konnte ich beobachten, wie sie sich entspannten und wohlfühlten.
Überzeugt von dieser gleichwürdigen Haltung gründete ich 2010 familylab.ch, ein Beratungsnetzwerk für Familien und Fachpersonen, dem heute 160 Seminarleiterinnen und Seminarleiter angehören. Ich kreierte eine Plattform, bei der sich Fachleute, Eltern und Erzieher Rat und Inspiration holen können, um gelingende Beziehungen zu leben.
Persönliche Erinnerungen: Ein Rausschmiss und viele Artischockenböden
Jesper war oft in der Schweiz, hielt für familylab.ch Vorträge und Seminare. Zwischen uns entstand eine spezielle Freundschaft. Mich faszinierte seine authentische Art. Er war immer echt und präsent. Er mochte keinen Smalltalk, war kein Freund schöner Worte. Er konnte gut zuhören, sprach auf den Punkt, überraschend, inspirierend.
Ich selber fühlte mich manchmal unsicher in meinem Tun und Handeln und hätte mich über ein aufmunterndes Wort von Jesper gefreut. Von Jesper kam kein Lob. Lob ist die Bewertung einer Leistung. Für ihn ist ein Mensch gut, wie er ist. Es dauerte eine Weile, bis ich mich sicher fühlte – auch ohne sein Lob.
Einmal fuhren wir zu einem Vortrag ins Wallis. Im Auto schlief Jesper regelmässig ein. Ab und zu musste ich für einen Raucherstopp anhalten. Auf der Fahrt erzählte er mir von einer Entzündung am Fuss und wie er den Fuss täglich im Salzwasser baden und salben sollte. Aber das gehe ja nicht, weil er immer auf Reisen sei. In Interlaken hielt ich an und kaufte im Supermarkt ein Becken und Salz. «So, nun kannst du auch in der Schweiz deine Fussbäder machen.» Jesper bat mich, nochmals zurückzugehen und nach Artischockenböden zu fragen. In seinem Land gebe es nur Artischockenherzen. Was für ein Glück – der Supermarkt führte tatsächlich Artischockenböden. Ich musste drei Dosen kaufen. Später, wenn ich Jesper in Kroatien oder in Dänemark besuchte, brachte ich ihm immer Artischockenböden mit.
Nach einem Seminar lud ich Jesper zu uns nach Hause ein. Unsere Kinder waren damals 5, 7 und 9 Jahre alt. Es ging dementsprechend turbulent zu und her. Unsere Tochter weinte, weil ihr Stofftier aufs Hausdach gefallen war. Sie wollte, dass ich die Leiter aus der Garage holte und es vom Dach fischte. Ich hatte aber keine Zeit, war mit Kochen beschäftigt und wollte mit Jesper zusammen sein. Also vertröstete ich unsere Tochter auf später.
Wir Erwachsenen sassen am Tisch, als unsere Jüngste plötzlich mit dem Koalabär in der Hand auftauchte. Stolz erzählte sie, wie sie mit ihren Geschwistern via Dachfenster aufs Dach gestiegen sei und ihr Kuscheltier ganz alleine aus dem Dachkennel gefischt habe. Ich war wie gelähmt vor Schreck. Jesper meinte nur: «Es ist ja nichts passiert.»
Urlaub gönnte er sich selten
Jesper fühlte sich sehr wohl in Istrien. Dort fanden auch die jährlichen familylab-Treffen statt. Alle familylab-Länder (2009 waren es 9, inzwischen sind es 22), trafen sich zum Arbeiten bei ihm zu Hause. Jesper organisierte für uns Schlafmöglichkeiten und kochte Octopussalat, den besten, den ich in meinem Leben je gegessen habe. Wir tranken Wein und diskutierten bis tief in die Nacht.
2012 erkrankte Jesper an einem Infekt, der ihn brustabwärts lähmte. Dazu quälten ihn unberechenbare höllische Schmerzen. Dass er seine letzten Jahre mit Leid und Schmerz verbringen musste, hat mich sehr betrübt. Jesper hat so viel für ein respektvolles Miteinander in der Familie und der Gesellschaft getan und war am Schluss durch seine Krankheit abhängig von Pflegepersonen und anderen Helfern. Es fehlten ihm die sozialen Kontakte und die Energie zu arbeiten.
Das letzte Mal traf ich Jesper im April vor einem Jahr an seinem 70. Geburtstag. Er hatte zu Hause eine kleine Feier organisiert. Trotz grosser Schmerzen nahm er daran teil. Bei meinem Besuch im Juli war Jesper zu schwach, um mich zu sehen. Er lag im Spital, litt an den Folgen einer schweren Lungenentzündung.
Am 25. Juli ist Jesper im Alter von 71 Jahren zu Hause in seiner Wohnung in Odder nahe Aarhus friedlich eingeschlafen.
Ich bin Jesper unendlich dankbar für seine Ideen, seine Inspiration, seine Bücher. Und dass ich ihn kennenlernen durfte. Damit seine Beziehungs- und Erziehungsprinzipien nicht in Vergessenheit geraten, haben wir 2015 mit seinem Einverständnis die familylab-Association gegründet. Sie wird die wertvolle Arbeit von Jesper Juul mit viel Sorgfalt weiterführen.
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