Schule zwischen Heft und Tablet - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Schule zwischen Heft und Tablet

Lesedauer: 6 Minuten

In der Projektschule Arth-Goldau müssen Smartphones und Tablets bei Stundenbeginn nicht weggepackt werden. Sie sind fester Bestandteil des Unterrichts. Wie verändert dies das Lernen? Wir haben zugesehen und nachgefragt.

Planarbeit im Hofmattschulhaus Arth: Auf den Tischen der 5. Klasse liegen Tablets und Smartphones. Viele der meist 12-jährigen Schüler tragen Kopfhörer. Manche lümmeln auf der Fensterbank herum. So wie Rico. Er schaut gerade auf seinem persönlichen Tablet ein YouTube-Video, in dem man Hockeyspieler über das Eis sausen sieht. Surft da jemand während des Unterrichts heimlich im Internet? «Nein», sagt er empört und zeigt auf das Aufgabenblatt.

Und tatsächlich steht dort geschrieben: «Scannt den QR-Code Eishockey. Schaut das Video und beantwortet die Fragen.» Hier geht es nicht nur einfach ums Filmchen-Gucken, denn die Fragen zum Video haben es in sich: Neben Verständnisfragen sollen die Schüler reflektieren, was einen guten Schiedsrichter ausmacht, und ob sie sich vorstellen könnten, Schiedsrichter zu werden. Am Schluss der Unterrichtseinheit werden sie darüber als Klasse mit ihrem Lehrer Christof Tschudi diskutieren. Aber noch sitzen sie über ihre Geräte gebeugt. Die Eishockeyaufgabe ist ja nur eine von vielen an diesem Vormittag.

Auf manchen Tischen liegen Schulhefte neben dem Gerät. Kumaran hört sich einen Text auf Französisch an, den der Lehrer für die Klasse in der virtuellen Dropbox hinterlegt hat. Gleichzeitig liest er ihn im Arbeitsheft mit und stoppt, um in einer Vokabel-App die Wörter nachzuschlagen, die er nicht kennt. Diese schreibt er wiederum mit dem Bleistift ins Heft.

«Meine Eltern staunen immer, wie das alles funktioniert. Was es alles für Programme fürs Rechnen und fürs Schreiben gibt, und dass ich da meine Schwierigkeitsstufe einstellen kann. Sie sehen mir dann manchmal dabei zu.»

Gerardina, 12, aus Arth

An einem anderen Schreibtisch hören Schülerinnen mit Kopfhörern gemeinsam ein Diktat auf dem Tablet an und schreiben von Hand mit. Ob alles richtig ist, können sie anschliessend selbst kontrollieren – die Datei dazu liegt ebenfalls in der Dropbox. Führt sie das nicht in Versuchung, gleich zu spicken? «Schon», sagt Veranda. «Aber da würden wir uns ja selbst bescheissen.» Und ihre Lernpartnerin Salome ergänzt: «Für den nächsten Test müssen wir es ja eh können, da lernen wir es lieber gleich richtig.» Am Nebentisch zeichnet ein Schüler Winkel – noch ganz klassisch mit Geodreieck und Bleistift. «Hier macht das Haptische auf jeden Fall Sinn», sagt Beat Döbeli, Professor und Projektbegleiter an der Pädagogischen Hochschule Schwyz, der gekommen ist, um zu schauen, wie es denn Klassen mit dem Projekt «Bring your own Device» – also «Bring dein Gerät mit» – so geht. Meistens gut. Die Klassen, in die er hineinschnuppert, arbeiten still vor sich hin – sogar wenn der Lehrer einmal nicht im Raum ist.

Die Primarschule in Goldau ist schon seit vielen Jahren eine Projektschule, die Primarschule in Arth schloss sich bald dem Projekt an. Seit 2004 setzen Lehrpersonen hier digitale Medien im Unterricht ein, zunächst in einzelnen Klassen. 2007 hat der heutige Schulleiter Christian Neff einen begeisterten Blogeintrag über sein erstes iPhone geschrieben und welche Möglichkeiten es für den Unterricht eröffnen würde, wenn alle Schülerinnen und Schüler diese Geräte nutzen könnten. Ihm schien damals noch ein utopischer Traum, was heute Realität ist: Die Kinder arbeiten ganz selbstverständlich mit Smartphones und Tablets im Unterricht.

«Mit dem Gerät habe ich viel schneller etwas nachgeschlagen als im Duden. Ausserdem sparen wir viel Papier, weil wir die Sachen nicht ständig ausdrucken, sondern auf den Fernseher an der Wand werfen, damit sie von allen gesehen werden.»

Kumaran, 13, aus Oberarth

Es war ein langer und mehrstufiger Weg bis hierher. 2009 wurde eine Schulklasse mit Schul-iPhones ausgestattet, heute gilt: «Bring your own Device.» «Es ist ökologisch, ökonomisch und auch emotional sinnvoll, dass die Schülerinnen und Schüler am eigenen Gerät arbeiten», sind Döbeli und der Schulleiter Neff überzeugt. Sie haben nach einer Umfrage das Projekt in der Altersstufe angesetzt, in der die meisten Kids ohnehin schon ein mobiles, internetfähiges Gerät zu Hause haben: in der 5. und 6. Klasse. Zunächst haben in Arth-Goldau nur technikaffine Lehrpersonen mitgemacht, dann wurde das Projekt immer weiter ausgeweitet – im kommenden Jahr sollen alle Klassen dieser Stufen in den Primarschulen Arth und Goldau dabei sein.

Eltern, besonders jene, die Bedenken haben, werden in das Projekt miteinbezogen. Bisher hat sich noch niemand der Entwicklung völlig verweigert. Der Schulleiter hat ausserdem regelmässig Besuch von Lehrpersonen und Schulleiterinnen anderer Schulhäuser, die ebenfalls mobile Geräte in den Unterricht einbauen wollen. Wichtig sei, dass die Initiative, die Lust auf Technik von den Lehrern selbst komme und nicht von oben verordnet werde, sagt Schulleiter Neff. «Ich empfehle jeder Schule, klein anzufangen.»

«Ich finde es super, wenn wir in der Schule Sachen im Internet suchen dürfen. Zu Hause benutze ich mein Gerät nur für die Hausaufgaben – mein Hobby ist ja Fussball, da bin ich dann lieber draussen.»

Tanja, 12, aus Oberarth

Christof Tschudi ist einer der Lehrer, die von Anfang an beim Projekt dabei sein wollten. Heute setzt er das Internet, die Kameras, die Tonausgabe und -aufnahme, Korrekturprogramme und Lern-Apps ganz selbstverständlich ein – als Ergänzung zum gewöhnlichen Unterricht. Am Ende der Stunde präsentieren die Lerngruppen ihre Ergebnisse aus dem Geschichtsunterricht. Sie haben selbständig die Sage über die Teufelsbrücke am Gotthard im Internet recherchiert und dann in einen Medienbericht verpackt. Die Bilder zum Bericht werden von ihrem iPhone aus per WLAN auf den grossen Fernseher geworfen, der über der Wandtafel hängt. Auch den Bildschirmschoner des Privathandys sieht man dabei natürlich kurz. «I speak fluent I dont give a shit» steht darauf. Eine andere Gruppe schliesst ihr Smartphone an den Lautsprecher – sie haben ein fiktives Interview mit dem Bauer geführt, der den Geissbock über die Teufelsbrücke schickte. «Ja, warum haben sie keinen Menschen über die Brücke geschickt? – Na, damit nicht noch einer stirbt», klingen die Stimmen der zwei Schülerinnen aus der Box, während diese kichernd davorstehen. Alles nur noch Hightech? Ganz und gar nicht, wie ein Blick auf die Tafel zeigt, wo schon die Präsentationen der anderen Schüler hängen: Eine Gruppe hat liebevoll die örtliche Tageszeitung gebastelt, ausgemalt und den Bericht dazu von Hand geschrieben.

«Ich schreibe viel lieber auf dem Tablet als im Heft, weil da Fehler gleich korrigiert werden. Und wenn ich Fragen zu Ufzgis habe, kann ich in unserem Klassenchat bei WhatsApp nachfragen – das ist total praktisch.»

Rico, 12, aus Arth

«WIR BENUTZEN DIE GERÄTE NICHT UM IHRER SELBST WILLEN»

Schulleiter Christian Neff und Mediendidaktikprofessor Beat Döbeli über die Vorteile und Vorurteile beim Lernen mit Smartphone und Co.

Herr Neff, Sie haben schon 2007 vom Einsatz von Smartphones im Unterricht geträumt. Sind Sie ein Geek?

Neff: Nein. Viele Schüler haben ein moderneres Smartphone als ich. Aber die Möglichkeiten, wenn jeder eine Stoppuhr, eine Kamera, Internetanschluss und ein Aufnahmegerät im Hosensack hat, haben mir sofort imponiert. Wir nutzen die Geräte als Werkzeuge, nicht um ihrer selbst willen.

Wie ist das gemeint?
Neff: Lern-Apps stehen nicht im Vordergrund, sondern wir nutzen eher die Funktionen, die das Gerät hat.
Döbeli: Wenn zum Beispiel das Thema Wald durchgenommen wird, bleiben die Schüler nicht im Klassenzimmer und gucken auf eine App. Die Klasse geht in den Wald. Aber dort werden auch Geräusche und Fotos aufgenommen oder etwas nachgeschlagen.

Züchten Sie damit nicht eine Generation heran, die nichts mehr ohne Smartphone machen kann?

Neff: Wir thematisieren ja auch die Mediennutzung im Unterricht. Die Kinder heute haben damit aber viel weniger Probleme als wir Erwachsenen. Sie lassen das Gerät auch mal über das Wochenende im Klassenzimmer, weil sie sich denken: Das brauche ich ja am Wochenende nicht.

Döbeli: Und um noch einmal das Waldbeispiel aufzugreifen: Das Smartphone kann die direkte Realität ergänzen. Oder soll die Schulklasse so lange im Wald bleiben, bis ein Fuchs vorbeikommt?

Ist Medienbildung bei Ihnen eine feste Unterrichtseinheit?


Neff: Nein – aber die Fragen, wie wir die Medien nutzen sollten, fliessen ganz automatisch in den Unterricht mit ein. Dadurch werden die Lehrpersonen auch in digitalen Fragen zu Vertrauenspersonen. Unsere Projektklassen haben Fälle von Cybermobbing in anderen Klassen früh entdeckt und die Lehrpersonen informiert. Spannend finde ich auch: Aus den Projektklassen selbst sind mir keine Fälle von Cybermobbing bekannt.

Machen es sich Lehrer nicht sehr einfach, wenn sie Schüler zum Aufgabenlösen an ein Gerät setzen, das diese gleich korrigiert?

Neff: Ich finde, dass unsere Lehrpersonen zu gut bezahlt sind, um stundenlang Aufgaben zu korrigieren, bei denen Schüler und Schülerinnen nur etwas ankreuzen oder eine Zahl hineinschreiben müssen. Das kann automatisiert werden. Diese Zeit stecken sie lieber in die individuelle Förderung der Kinder!

Kritiker des digitalen Lernens meinen, dass Kinder in der Primarschule nur Wisch- und keine Medienkompetenz erlernen. Professor Gerald Lembke fordert: Keine Computer in den unteren Schulklassen

Döbeli: Diese Kritiker gehen aber auch meistens davon aus, dass die digitalen Methoden die anderen ersetzen. Wir setzen die Geräte nur ein, wenn es Sinn macht. Ein Richtwert ist: 10 bis 15 Prozent der Unterrichtszeit. Es gibt noch immer Zirkel und Tafeln in unseren Klassenzimmern, und diese werden auch benutzt.

Aber irgendetwas anderes muss ja wegfallen. Lernen Ihre Schüler weniger auswendig?

Neff: Sie lernen natürlich Vokabeln, und ich bin auch ein grosser Fan davon, Gedichte auswendig zu lernen. Aber wir überlegen, was Sinn macht. Lange mussten meine Schülerinnen die Wappen unserer Kantonsbezirke kennen – dabei musste ich sie selber alle zwei Jahre nachschlagen. Jetzt lernen sie lieber das Nachschlagen. Wir möchten sie auf ein Leben in der Informationsgesellschaft vorbereiten. Wir gehen davon aus, dass mindestens 50 Prozent von ihnen mal einen Beruf haben, in dem digitale Medien eine Rolle spielen.

Döbeli: Die von Professor Lembke geforderte Abstinenz bringt nichts. Das hat noch bei keinem Medium funktioniert. Dann nutzen die Schüler ihr Smartphone eben zu Hause oder in der Pause – und da können wir sie nicht begleiten, und so bleibt die gesamte Medienbildung an den Eltern hängen.

Beat Döbeli (links) Prof., begleitet die Projektschule als Dozent mit Forschungsauftrag am Institut Medien und Schule der Pädagogischen Hochschule Schwyz.  Christian Neff (rechts) ist Leiter der Primarschule Goldau. Mit Beat Döbeli und Lehrpersonen beschreibt er seine Erfahrungen mit der Projektschule in einem Blog unter www.projektschule-goldau.ch.
Beat Döbeli (links)
Prof., begleitet die Projektschule als Dozent mit Forschungsauftrag am Institut Medien und Schule der Pädagogischen Hochschule Schwyz.

Christian Neff (rechts)
ist Leiter der Primarschule Goldau. Mit Beat Döbeli und Lehrpersonen beschreibt er seine Erfahrungen mit der Projektschule in einem Blog unter www.projektschule-goldau.ch.

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