Es muss nicht immer das Gymnasium sein
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Es muss nicht immer das Gymnasium sein

Lesedauer: 3 Minuten

Ein erfolgreiches Berufsleben hängt von viel mehr ab als klassischem Schulwissen. ­Deshalb sollten wir endlich mit der Vorstellung brechen, die gymnasiale Matura sei der Königsweg im Bildungssystem.

Text: Thomas Minder
Bild: Rawpixel / Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo

Neulich war ich an einer Podiumsdiskussion zu Gast. Es ging um Schule und Bildung. Ich erfreute mich angeregter Gespräche, in deren Verlauf mir allerdings einmal mehr auffiel, dass in unseren Köpfen ein Zweiklassendenken herrscht, wenn es um Bildungswege geht. Die gymnasiale Matura gilt offensichtlich noch immer als Königsweg aller schulischen Laufbahnen. Die Ansicht, sie sei mehr wert als eine Berufsmaturität oder ein durch Berufslehre erworbenes Fähigkeitszeugnis, hält sich hartnäckig.

Sogar Lehrpersonen glauben oft, die besonders begabten Jugendlichen seien allein im Gymnasium anzutreffen. Dabei zeigt die Forschung, dass es unter den Absolventinnen und Absolventen von Berufslehren ebenso viele helle Köpfe gibt. Mit der Aufnahmeprüfung in ein Gymnasium wird lediglich sichergestellt, dass die schulisch Schwächeren dort keinen Zugang erhalten. Was wiederum nicht heisst, dass nicht begabt sei, wer die Gymi-Prüfung versemmelt – manchmal hat man einfach einen schlechten Tag.

Kognitive Fähigkeiten sind nur eine von vielen Intelligenzen

Mein Vorschlag wäre, dass wir anfangen, über den klassischen Intelligenzbegriff hinauszudenken. Inspiration dafür bietet etwa die Arbeit des US-Erziehungswissenschaftlers Howard Gardner. Klas­sische Intelligenztests, die allein unsere kognitiven Fähigkeiten erfassen, sind Gardner zufolge unzureichend, wenn es darum geht, andere Kompetenzen zu erkennen, die je nach sozialer Begebenheit oder kulturellem Kontext auch ausschlaggebend sind für ein erfolgreiches Leben.

In dieser Überzeugung entwickelte er in den 1980er-Jahren die Theorie der multiplen Intelligenzen. Sie umfasst logisch-mathematische, sprachliche sowie bildlich-räum­liche Fähigkeiten, wie sie im klassischen Intelligenzmodell vertreten sind – aber eben auch solche, die dieses nicht mitberücksichtigt. So etwa die musikalisch-rhythmische, die interpersonale und soziale Intelligenz oder die körperlich-kinästhetische. Letztere befähigt Menschen Gardner zufolge, mit ihrem Körper Ausserordentliches zu leisten, wie es Sportlerinnen oder Tänzer tun, steht aber auch für handwerkliche Begabung, wie sie Künstlerinnen, Handwerkern oder Chirurginnen eigen ist.

Thomas Minder: «Lehrpersonen glauben oft, begabte Jugendliche seien allein im Gymnasium anzutreffen. Dabei gibt es in der Berufslehre ebenso viele helle Köpfe.»

Auch wenn Gardners Modell von der Wissenschaft kritisiert wird, bringt es doch zum Ausdruck, dass es im Leben um mehr geht als um schulisches Wissen. Die gängigen Aufnahmeprüfungen setzen aber weiterhin auf alte Schule. Abgefragt werden Mathematik, Deutsch und Französisch. Talente in Musik, Gestaltung oder Sport zählen nicht, geschweige denn soziale oder körperliche Fähigkeiten. Und selbst wenn Letztere für ein Sportstudium doch im Zentrum stehen sollten, ist auch hier die gymnasiale Matura Voraussetzung für eine Zulassung.

Eine unüberwindbare Hürde

Vor einigen Jahren hatte ich einen Schüler, der unter einer Lese-Rechtschreib-Störung litt. Nicht wenige Menschen mit dieser Symptomatik verfügen über ein ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen. So auch besagter Schüler: Sein Talent in Mathematik und Physik war ausserordentlich. Er hätte bestimmt ein Hochschulstudium absolvieren können. Aber die gymnasialen Lernziele in Deutsch und Fremdsprachen stellten für ihn eine unüberwindbare Hürde dar.

Unsere Gesellschaft müsste viel mehr dafür besorgt sein, dass Kinder ihre Talente entdecken, weiterentwickeln und gezielt einsetzen können.

Meine Abklärungen bei der Kantonsschule ergaben, dass es keine Möglichkeit gab, ihn von Sprachfächern zu dispensieren oder seine Lernziele anzupassen. So hat sich mein ehemaliger Schüler für eine technische Berufslehre entschieden, die er in der Zwischenzeit abgeschlossen hat. Heute ist er erfolgreicher Berufsmann.

Gymnasium oder Berufslehre: Viele Wege führen nach Rom

Mein ältester Sohn entschied sich derweil bewusst gegen den sogenannten Königsweg. Nach der zweiten Sekundarschule bestand er die Aufnahmeprüfung an die Kantonsschule, so dass er ins Gymnasium hätte wechseln können. Er sah davon ab – und wählte eine Berufslehre als Automatiker mit Berufs­matur. Manche mögen nun denken, er habe damit eine Chance vertan, gar seine Intelligenz verschwendet. Meine Frau und ich sind überzeugt davon, dass er den richtigen Platz gefunden hat. Seine Leidenschaft für den Beruf und die Zufriedenheit, die er dabei ausstrahlt, bestärken uns in dieser Haltung.

Es ist Zeit, mit dem Klischee zu brechen, dass eine gymnasiale Matura Voraussetzung für beruflichen Erfolg sei. Meines Erachtens müsste unsere Gesellschaft viel mehr dafür besorgt sein – und da haben die Schulen eine grosse Verantwortung –, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit haben, ihre Talente zu entdecken, sie weiterzuentwickeln und beim Eintritt in die Berufswelt gezielt einzusetzen. Das gelingt aber nur, wenn wir dem Nachwuchs auch Freiräume ermöglichen, in denen Kinder und Jugendliche eigenen Ideen und Neigungen nachgehen können – sei es am Zeichentisch, auf dem Bauernhof, in der Werkstatt oder draussen im Wald.

Thomas Minder
ist Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH und leitet die Volksschulgemeinde Eschlikon TG auf Stufe Kindergarten und Primarschule.

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