«Schulpsychologen brauchen die Hilfe der Eltern» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Schulpsychologen brauchen die Hilfe der Eltern»

Lesedauer: 8 Minuten

In jedem Kanton gibt es Schulpsychologische Dienste. Ihr Angebot steht Kindern und Jugendlichen, Eltern und Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung. Doch wann werden Schulpsychologen hinzugezogen? Schulpsychologin Ruth Etienne Klemm über auffällige Schüler und überforderte Eltern. 

Ein schön restauriertes Stadthaus im Zürcher Kreis 6. Im 3. Stock befinden sich die Räume des Schulpsychologischen Dienstes Waidberg. Im Gang eine Spielecke, im Büro der Schulpsychologin eine Sandkiste mit Sandspielzeug. Ruth Etienne Klemm lächelt, streicht über den Rock ihres Kostüms, setzt sich. Vor ihr auf dem Tisch liegen ausgebreitet Unterlagen. Sie hat sich gut vorbereitet auf das Gespräch mit der Journalistin. 

Frau Etienne Klemm, als Schulpsychologin arbeiten Sie mit Lehrpersonen, Schulleitern, der Schulpflege und Eltern eng zusammen. Mit welchen Sorgen kommen Eltern zu Ihnen? 

Wenn sich Eltern an den Schulpsychologischen Dienst wenden, geht es immer um Schwierigkeiten ihrer Kinder in der Schule und mit dem Lernen. Sie machen sich Sorgen, dass ihr Kind schulisch nicht recht vom Fleck kommt, denken, dass ihr Kind vom Lehrer nicht «richtig» gesehen, in seinen Fähigkeiten und seinem Bemühen nicht richtig eingeschätzt wird, oder sie sagen, dass sich das Kind in der Klasse nicht wohlfühlt. 

Was heisst das konkret?

Machen wir ein Beispiel: Ein Kind ist in der 6. Klasse und möchte an die Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium gehen. Die Eltern sind überzeugt, dass diese Schule genau das Richtige für ihr Kind ist. Die Lehrpersonen hingegen sehen einige Schwierigkeiten beim Lernen und bei der Arbeitshaltung. Dann kann es sein, dass die Eltern mit der Idee zu uns kommen, ihr Sohn, ihre Tochter habe eine Rechtschreibschwäche, für die sie einen Nachteilsausgleich erwirken möchten. Das würde be­­deuten, dass das Kind zusätzliche Zeit bekommt oder gewisse Hilfsmittel, zum Beispiel einen Rechtschreibeduden, bei der Prüfung verwenden darf.

Und der Schulpsychologische Dienst geht dem nach. 

Wir kontaktieren die Schule, die das Kind besucht. Hat man dort bereits etwas unternommen, und, wenn ja, was? Ist diese Schwierigkeit den Lehrpersonen auch in den vorangegangenen Schuljahren aufgefallen? Wurden Massnahmen, wie spezielle Lese- oder Rechtschreibtrainings, ergriffen? Mit welchem Erfolg? Falls nicht, kann das Kind von uns abgeklärt werden. Dies muss natürlich sehr sorgfältig erfolgen, damit nicht der Verdacht aufkommt, die Eltern wollten dem Kind nur einen Vorteil verschaffen.

Haben Sie ein weiteres Beispiel für uns?

Ein anderes Mal haben mich Eltern kontaktiert, die der Meinung waren, ihr 8-jähriger Sohn sei sehr begabt und langweile sich im Unterricht. Sie hatten im Familienrat darüber gesprochen, ob der Junge vielleicht eine Klasse überspringen sollte. Er sei so lernbegierig und die Eltern wollten, dass er sich die Freude am Lernen erhält. Ich bin dann auf die Lehrerin zugegangen, die im Grunde gleicher Meinung war. Der Bub sei auf der kognitiven und sozialen Ebene sehr weit. Sie war sich aber nicht sicher, ob er auch schon von der emotionalen Reife in eine vierte Klasse passen würde.
Dr. phil. Ruth Etienne Klemm ist Schulpsychologin im Schulpsychologischen Dienst der Stadt Zürich sowie Mutter von zwei erwachsenen Kindern – einer Tochter und einem Sohn.
Dr. phil. Ruth Etienne Klemm ist Schulpsychologin im Schulpsychologischen Dienst der Stadt Zürich sowie Mutter von zwei erwachsenen Kindern – einer Tochter und einem Sohn.

Wie sind Sie vorgegangen? 

Ich habe die ganze Familie zu Ge­­sprächen eingeladen. Ich wollte ihre Sicht gut kennenlernen und habe einen IQ-Test mit dem Jungen und projektive Verfahren (Sandspiele, Zeichnungen) durchgeführt. Wir haben über mögliche Konfliktsituationen und Hürden in der zukünftigen Klasse gesprochen und sie probehalber auch ein bisschen durchgespielt: «Was kannst du in einem solchen Fall machen?» «Was tust du normalerweise?» Nach so einem Gespräch kann man die sozia­len und emotionalen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Kindes besser einschätzen. 

Und welchen Eindruck hatten Sie von dem Jungen?

 Er war auf eine sympathische, herzige Weise noch ein junger Schulbub. 

Also hatte die Lehrerin ihn richtig eingeschätzt? 

Auf jeden Fall! Gemeinsam haben wir dann eine Gewichtung vorgenommen. Seine kognitive und seine soziale Seite waren sehr stark ausgeprägt, und er hatte bereits ein gutes emotionales Fundament. Er war nicht jemand, den man leicht verunsichern konnte, so dass wir alle den Eindruck hatten, ein Versuch würde sich lohnen, trotz aktuell noch fehlender Reife. 

Also hat er eine Klasse übersprungen …

… und hat es gut gemacht. Heute ist er am Gymnasium und zufrieden. 

«Manche Eltern deligieren ihre Träume an die Kinder. Und überfordern sie.»

Ruth Etienne Klemm

Mit welchen Problemen kommen Lehrperson auf Sie zu?

Häufig geht es bei ihren Anfragen um sehr unruhige Kinder, die den Unterricht stören, laut sind, dem Stoff nicht folgen können. Oder sie haben den Eindruck, sie könnten sie nicht genügend fördern, die grosse Regelklasse wäre kein adäquater Rahmen für deren besondere Bedürfnisse. Sie vermuten beispielsweise ein ADHS und erhoffen sich, nach einer Abklärung besser zu wissen, was mit dem Kind los ist. Zum einen wollen sie das Unterrichtsklima verbessern, zum anderen dem Schüler, der Schülerin helfen. 

Und wenn die Eltern einer Abklärung nicht zustimmen?

Das respektieren wir. In einem solchen Fall würde ich mit der Lehrperson ihre Fragen besprechen. Je nachdem könnte es dann sein, dass ich mir im Rahmen eines allgemeinen Schulbesuchs in der Klasse einen Eindruck von der Gesamtdynamik mache und die Lehrperson berate. 

Dabei schauen Sie sich natürlich das entsprechende Kind an. Angenommen, sie haben den gleichen Eindruck wie die Lehrperson.

Dann würde ich das auch so kommunizieren. Zusammen mit der Lehrperson würden wir überlegen, wie wir die Eltern für eine Zusammenarbeit gewinnen und welche weiteren Massnahmen dem Kind helfen könnten, dem Unterricht besser zu folgen. 

Welche Massnahmen könnten das sein?

In manchen Fällen hilft es bereits, einen ruhigeren Sitzplatz auszuwählen. Es gibt auch Kopfhörer, die den Geräuschpegel in der Klasse dämpfen. Das hilft vielen, sich besser zu konzentrieren. Andere brauchen ganz detaillierte Arbeitsanweisungen, Vorgaben anhand eines Ablaufschemas, an das sie sich halten können. Wenn das nicht reicht, brauchen wir die Eltern mit im Boot. Dann wird ein gemeinsames Gespräch mit der Lehrperson, der Schulleitung und den Eltern vorgeschlagen. 

Gibt es eine Instanz, die bestimmen kann, dass ein Kind von einer Schulpsychologin, einem Schulpsychologen abgeklärt wird? 

Ja, die Schulpflege. Aber wir versuchen alles, um solch eine «Zwangsmassnahme» zu vermeiden. Wir sind auf die Kooperation der Eltern angewiesen – sie kennen das Kind am besten. So ein Fall ist mir zum Glück noch nicht begegnet. In der Regel arbeiten alle Seiten sehr gut zusammen. Zum Wohl des Kindes.

In vielen Gemeinden wurden die ­Kleinklassen aufgelöst und die Kinder mit speziellem Förderbedarf in die Regelklassen integriert. Inwiefern hat dies Ihre Arbeit verändert? 

Sie sprechen das neue Volksschulgesetz an. Mit ihm hat es einen Paradigmawechsel gegeben: von der Separation zur Integration. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Klassenzusammensetzung dadurch heterogener geworden ist und das Lernen individualisierter, was eine grosse Herausforderung für die Lehrpersonen, aber auch für uns Psychologen darstellt. Lag der Fokus bisher vor allem auf den Schwierigkeiten des Kindes, berücksichtigen wir nun auch stärker als bisher das Umfeld des Kindes, die Interaktionen und alles, was das Mitmachen im Unterricht beim Kind fördert beziehungsweise hindert. 

Auch auf der gesellschaftlichen Ebene hat sich in den letzten Jahren einiges verändert. 

Oh ja. Die Anforderungen an die Familien sind gestiegen. Viele Eltern arbeiten heute sozusagen 150 Prozent, sind stark belastet und haben den Kopf nicht frei. Einige sind auch am Wochenende zu müde, um sich wirklich mit ihren Kindern zu be­­schäftigen, auseinanderzusetzen, und sind dann auch nicht in der Lage, eine klare Erziehungshaltung einzunehmen. Sie geben nach, wo sie nicht nachgeben sollten. Andererseits haben wir heute viele Familien mit Migrationshintergrund beziehungsweise Flüchtlinge, die unsere Kultur und unser Schulsystem kaum kennen. Deshalb wird vieles heute an die Schule delegiert, wie das Einüben von Regeln oder das Schenken von Zuwendung und Aufmerksamkeit. 

Können Sie uns einen solchen Fall schildern?

Ich bin einmal im Fall eines kleinen Erstklässlers zugezogen worden, der die ganze Klasse aufgemischt hat. Zwei Lehrer, die Schulleitung, der Schulpflegepräsident, die Logopädin, die Eltern und ich sassen zusammen am runden Tisch. Die Lehrer haben den Bub als absoluten Störenfried beschrieben, der nie aufpassen könne, nichts arbeite, ständig die anderen Kinder ablenke und nun für den Unterricht untragbar geworden sei. Die Eltern haben ihren Ohren nicht getraut. Daheim sei er das liebste Kind, spiele gerne, helfe Mutter und Vater. Es war, als hätten wir von zwei verschiedenen Kindern gesprochen. 

«Eltern treibt die Sorge um, ihre Kinder könnten einmal keinen guten Beruf lernen.»

Ruth Etienne Klemm

Was haben Sie unternommen?

Wir hatten zwei komplett unterschiedliche Bilder von ein und demselben Kind vor uns. Ich wollte diese beiden Bilder zusammenbringen. Ich schlug vor, den Buben, der bereits vom Unterricht ausgeschlossen war, für einen Monat wieder die Schule besuchen zu lassen mit der Auflage, dass Vater oder Mutter ihn begleiteten. Ich würde nach einer Woche einen Unterrichtsbesuch machen. Ich war beeindruckt von dem, was ich sah. Der Junge hat seine Mutter permanent auf Trab gehalten, sie musste ihm ständig hinterherspringen: «Sei jetzt still», «das musst du tun», «du darfst jetzt nicht sprechen, das stört», «setz dich hin und nimm den Bleistift …» 

Wollten die Eltern die Realität nicht sehen? 

Sie konnten die Realität einer Schulklasse nicht sehen. Die Lehrerin hat 20 Kinder zu betreuen und nicht ein einziges. Sie ist darauf angewiesen, dass die Kinder sich an gemeinsame Regeln halten, dass sie mehr oder weniger aufpassen, wenn sie sie dazu auffordert, dass sie zuhören und das Gefühl entwickeln, ein Teil einer grösseren Gruppe zu sein. Der Bub durfte in der Klasse bleiben. Er hat eine zusätzliche Förderung bekommen, und die Eltern waren motiviert, ihrerseits mitzuhelfen, dass der Junge bleiben konnte.   

Die von Ihnen genannten Beispiele betreffen Primarschüler. Ist Ihre Mit­arbeit bei Oberstufenschülern nicht mehr gefragt?

Oh doch. Auf der Oberstufe treffen wir oft noch immer auf die gleichen Probleme – verschärft durch Schulmüdigkeit  und Pubertätsschwierigkeiten. Ein grosses Ziel bei diesen Schülern ist immer, alles daran zu setzen, dass sie ihren Schulabschluss machen können, damit sie eine Lehre oder eine verkürzte Lehre mit Attest beginnen können. Oft werden sie auch durch verschiedene Brückenangebote zusätzlich unterstützt, damit sie ihren Weg in den ersten Arbeitsmarkt finden.
Ruth Etienne Klemm bedauert, dass sich Jugendliche durchs Gymi quälen, weil diese Schulform nicht für sie geeignet ist.
Ruth Etienne Klemm bedauert, dass sich Jugendliche durchs Gymi quälen, weil diese Schulform nicht für sie geeignet ist.

Was beschäftigt Mütter und Väter heute am meisten? 

Ich denke die Sorge, ihre Kinder könnten einmal keinen guten Beruf lernen, den sozialen Aufstieg nicht schaffen oder vom gesellschaftlichen Abstieg bedroht sein, ist etwas, das viele schon sehr früh umtreibt. Eltern wollen, dass ihre Kinder bestmöglich geschult und gefördert werden, um später sichere Jobs zu finden und gutes Geld zu verdienen. Das baut eine Menge Druck auf, nicht nur bei den Kindern, sondern auch in der Schule. Wir Schulpsychologen versuchen immer wieder zu helfen, diesen Stress abzubauen. 

Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?   

Mir ist es wichtig, zu verstehen, warum Eltern selber so viel Stress  haben und Stress machen. Die eigene Ge­­schichte spielt massiv in die Erziehung hinein – auch die der eigenen Schulkarriere. Manche kennen diesen Leistungsdruck aus dem eigenen Elternhaus. Andere kommen vielleicht aus einem Land, wo die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen keine höhere Schulbildung zuliessen. Ihre Träume delegieren sie nun an ihre Kinder. Wieder andere fürchten den globalen Wettbewerb und denken: Einschulung je früher, je besser. So argumentierte einmal ein Vater, der seine Tochter unbedingt mit knapp sechs Jahren einschulen lassen wollte, damit, dass in anderen Ländern die Kinder auch so früh in die Schule kommen. 

Was können Sie tun?

Ich versuche Überzeugungsarbeit zu leisten, dass ein guter Schulstart für die Kinder entscheidend ist. Gekappte Kindergartenjahre zahlen sich selten aus. Im Gegenteil! Wenn die Kinder schulreif sind, dann sind sie ausgerüstet für Neues und können vom Unterricht profitieren – und übrigens nicht nur sie, sondern alle rundherum auch. 

Viele Eltern sind sehr präsent, wenn es um Tests, Prüfungen und so weiter geht. Setzen sie damit die falschen Signale? 

Die einseitige Gewichtung der Leistung ist etwas sehr Kontraproduktives. Eine Faustregel für die Eltern lautet: Zeigen Sie breites Interesse für die Lebenswelt Ihres Kindes. Und da gehört ganz vieles dazu, die anderen Kinder, die Freunde, die Schule, ihr Familienalltag, die gemeinsamen Ausflüge. Dafür braucht es aber Zeit, die in vielen Familien heute oft fehlt. Darunter kann die Beziehung zwischen Eltern und Kindern leiden. Für die Kinder und ihre Entwicklung ist es aber wichtig, eine gute Beziehung zu ihren Eltern leben, pflegen und entwickeln zu können. Wenn es dann aber um den Übertritt ans Gym­­nasium oder die Sekundarschule geht, spielen Noten doch eine wichtige Rolle.

Auch hierzulande wollen immer mehr Eltern ihre Kinder am Gymi sehen.

Über diese Entwicklung sind wir Schulpsychologinnen und Schulpsychologen nicht glücklich. Ich bedaure die überforderten Kinder, die sich durchs Gymnasium quälen, weil sie für diese Schulform nicht geeignet sind. Für viele Schüler ist ein Sekundarschulabschluss mit anschliessendem Lehrabschluss die viel bessere Grundausbildung und ein gutes Fundament. Die Erfahrung zeigt, dass über den Erfolg und die Freude an dem, was man erreicht hat, die Lust wächst, weiter zu lernen. Ich sage Eltern oft: Wenn es uns gelingt, dass Ihr Kind eine gute Schulkar­riere macht, bei der es glücklich und zufrieden ist und viel lernt, wird es seinen Weg machen. 

Der Schulpsychologische Dienst

Schulpsychologische Dienste sind öffentliche Beratungsstellen. Ihr Angebot steht Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen kostenlos zur Verfügung. Schulpsychologen und Schulpsychologinnen führen Abklärungen durch, beraten bei Lernschwierigkeiten, bei Verhaltensauffälligkeiten oder bei schulischen Laufbahnfragen und empfehlen unterstützende Massnahmen. In allen Kantonen gibt es Schulpsychologische Dienste. Informationen und Kontaktadressen auf www.schulpsychologie.ch