Herr Bürgin, wie deutet man heute einen Traum? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Bürgin, wie deutet man heute einen Traum?

Lesedauer: 4 Minuten

Sigmund Freud sagte einst, der Traum sei der Königsweg zum Unbewussten. Auch der Basler Kinder- und Jugendpsychiater Dieter Bürgin nutzt diesen Weg ins Unterbewusstesein seiner Patienten. Gemeinsam mit ihnen sucht er nach der Bedeutung ihrer Träume. Wie macht er das? 

Kinder- und Jugendpsychiater Dieter Bürgin eröffnet das Gespräch mit einem Kind wie folgt: «Ich kenne dich nicht, du kennst mich nicht. Was möchtest du, was ich von dir kennenlerne?»

Nach einem Traum fragt er nicht. Stattdessen versucht er das Vertrauen des Kindes zu gewinnen und ihm zu zeigen, dass es nicht alleine ist mit seiner Innenwelt. Bis das Kind schliesslich einen Traum erzählt, kann viel Zeit vergehen.

Dieter Bürgin ist emeritierter Professor der Universität Basel und arbeitet heute in eigener Praxis. Er trägt seine Taschenuhr an einem Kettchen. Der Blick darauf erübrigt sich. Aus einem Nebenzimmer erklingt dumpf der Klang einer Pendeluhr. Soeben schlägt sie die volle Stunde. An einer Wand steht die Couch, dahinter ein dunkler Sessel. In einem davon sitzt der Analytiker.

Eine Praxis wie jede andere?

Nichts in seiner Praxis erinnert daran, dass hier Kinder ein- und ausgehen, kein Spielzeug, keine Zeichnungen. Und doch wirkt der Raum einladend. Vielleicht liegt es an Dieter Bürgin selbst. Ein bisschen erinnert er an den Buchhändler Karl Koreander aus Michael Endes Märchen «Die unendliche Geschichte». Nachdem der elfährige Bastian im Antiquariat seinen Buchdiebstahl gesteht, will Karl Koreander nichts davon wissen: «Du hast mir dieses Buch nicht gestohlen», sagt er. Im Gegenteil. Er bedankt sich und wünscht ab und zu gemeinsam Erfahrungen über Phantásien auszutauschen.
Klarträume können Albträume verschwinden lassen.
Dieter Bürgin versucht jeweils gemeinsam mit dem Kind die Traumbedeutung herauszufinden.

«Der Traum ist ein Geschenk!»

«Ein Kind prüft genau, wem es einen Traum erzählt und was der Empfänger damit macht», sagt Dieter Bürgin. «Der Traum ist ein Geschenk. Drücke ich einen Stempel drauf, mache ich das Geschenk kaputt.» Ein Stempel kann sein, dem Kind die eigene Interpretation des Traumes überzustülpen. «Das ist eine Unart», sagt Dieter Bürgin. «Ein Traum kann Symbole enthalten, aber deren Bedeutung lässt sich nicht verallgemeinern. Ich versuche, sie gemeinsam mit dem Kind zu erschliessen.»

Dieter Bürgin hört zu, beobachtet, denkt sich in die Fantasien des Kindes hinein: Welche Elemente hebt es hervor? Welche Einfälle hat es dazu? Welche Gefühle und welches Verhalten begleiten die Erzählung und die Beziehung zwischen dem Kind und dem Psychoanalytiker? Stück für Stück erarbeiten sich die beiden für einzelne Teile des Traumes eine Bedeutung, die für das Kind in diesem Moment relevant ist.

Einen Tiger als Spielkameraden?

Fragen stellt Dieter Bürgin nur wenige, ausser er versteht etwas nicht. Eine Patientin konnte lange nicht normal ins Bett gehen, sondern nur springen. «Von aussen sieht man das Kind, das springt. Bei einem solchen Verhalten frage ich nach: Was ist denn los? Ich verstehe nicht, warum du springst.» Er erfährt: «Ein Tiger liegt unter dem Bett. Das macht mir Angst.»

Naheliegend wäre, den Tiger zu verbannen, um das Symptom rasch wegzukriegen. Dieter Bürgin tut das Gegenteil: Er gibt dem Tiger Raum, damit er in die analytische Beziehung gelangen und bearbeitet werden kann. «Ich weiss ja nicht, wofür der Tiger steht: Ist er der imaginäre Spielkollege des Kindes? Ein Teil des Kindes? Würde ich mit der Entfernung des Tigers auch einen Teil des Kindes entfernen?» Darum bleibt das Raubtier unter dem Bett – unter Umständen für eine längere Zeit.

Seit Freuds Begründung der modernen Traumdeutung vor gut 120 Jahren wurden schnellere Verfahren entwickelt, um beängstigende Träume zu beseitigen. Warum also sucht Dieter Bürgin nach der Bedeutung eines Traumes? Was hofft er zu finden? Um das zu erklären, holt er ein wenig aus.

Wenn das logische Denken aussetzt …

Die Psychoanalyse unterscheidet zwei Denkarten. Zum einen das Primärprozessdenken, mit welchem der Säugling auf die Welt kommt. Es ist eine primitive Denkart, gekennzeichnet durch fehlende Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Kausalität: Inhalte lassen sich beliebig verschieben und verdichten. Diese Denkart entspricht dem Traumdenken. Zum anderen entsteht ungefähr ab dem dritten Lebensjahr das Sekundärprozessdenken, das logische Denken. Es ist das Wachdenken. Dieses ist gekennzeichnet durch eine sprachliche Ordnung. Dazu gehören Struktur, Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Kausalitäten. Verschiebungen und Verdichtungen sind hier nicht so einfach möglich.

Die Traumbildung ist ein kreativer Akt, oft nicht sprachlich.

Im Schlaf setzt das logische Denken aus. Menschen können plötzlich fliegen oder die Grossmutter ist eine Collage aus Mutters Kleidung, Vaters Stimme und der Frisur der Lehrerin. Die Traumbildung ist ein kreativer Akt, meistens eine kleine Szenerie, manchmal statisch, meist dynamisch, oft nichtsprachlich. Das Gehirn schläft nie, sondern erzeugt 24 Stunden lang Gedanken, Gefühle, Wünsche und Absichten. Damit wir davon nicht erwachen, gaukelt das Traumdenken Befriedigung vor.

Das Wenigste, was das Gehirn Tag wie Nacht produziert, wird uns bewusst. Nicht immer erinnern wir uns an Träume. Wenn doch, treten sie oft in verkleideter Form ins Bewusstsein. An dieser Stelle setzt Dieter Bürgin an. Dabei unterscheidet er den geträumten, den erinnerten und den erzählten Traum.

Wie sieht die heutige Traumdeutung aus?

Sophia zum Beispiel berichtet, dass sie ihre Träume beim Erzählen anreichert, damit der Zuhörer sie versteht. «Für wen ergänzt Sophia den Traum? In welchem Dialog baut sie ihn aus? Und womit?», würde er sich fragen, sagt Dieter Bürgin. «Kennt sie vielleicht das Gefühl, missverstanden zu werden? So wird das Formale wichtiger als der Inhalt.»

Es gilt also viele Faktoren zu berücksichtigen bei der Deutung eines Traumes. Der elfjährige Luis träumte, sein Vater sei gestorben. Was heisst das nun? In der Antike wäre dieser Traum vermutlich als Prophezeiung ausgelegt worden. Sigmund Freud hätte vielleicht einen Wunsch darin erkannt. Die heutige professionelle Traumdeutung distanziert sich von festen Bedeutungszuschreibungen. Dieter Bürgin sagt schlicht: «Ich weiss auch nicht, was dieser Traum bedeutet.»

Käme Luis zu ihm, würde er ihn erst einmal fragen: «Was möchtest du, was ich an dir kennenlerne?»


Zur Autorin:

Sarah King, Dr. phil. Linguistik und MSc Psychologie, arbeitet in einer psychiatrischen Klinik im Kanton Bern sowie als freie Journalistin und Autorin. Mit Freude liess sie sich in die nächtlichen Traumwelten entführen und sagt: «Danke dafür, liebe Kinder!»
Sarah King, Dr. phil. Linguistik und MSc Psychologie, arbeitet in einer psychiatrischen Klinik im Kanton Bern sowie als freie Journalistin und Autorin. Mit Freude liess sie sich in die nächtlichen Traumwelten entführen und sagt: «Danke dafür, liebe Kinder!»


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