Verträumte Kinder in der Schule - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Verträumte Kinder in der Schule

Lesedauer: 5 Minuten

Stille Kinder, die Schwierigkeiten haben, sich auf den Unterricht zu konzentrieren gehen im ­Schulalltag häufig unter. Wie es Lehrpersonen gelingen kann, diese Kinder dort abzuholen, wo sie stehen, zeigen die folgenden Beispiele aus dem Schulalltag.

Verträumten Kindern fällt es schwer, ihre Tagträume abzuschütteln, vor allem dann, wenn sie sich unter Druck fühlen, die Aufgabe repetitiv oder langweilig ist, sie ­lange zuhören müssen, müde sind oder sie etwas emotional beschäftigt. 
Wie Lehrpersonen Unterstützung bieten können, zeigen die folgenden Beispiele: 

Claudia Matt, Lehrerin auf Primar­stufe und Heilpädagogin im Kanton St. Gallen: 

«Mir fällt auf, dass viele unaufmerksame und ­hibbelige Kinder weniger abschweifen, wenn sie ihren Körper besser spüren. Ich nutze dazu ein grosses Stuhlkissen, welches um die Hüfte geschlungen wird, und Kirschsteinsäckchen, die sich die Kinder auf die Knie legen dürfen. Ich habe Dinos draufgenäht: Das sind unsere Kraftspender. Die Kissen geben den Kindern während der Stillarbeit Halt.

«Ein Tagesplan gibt verträumten Kindern Orientierung», sagt Lehrerin Claudia Matt.

Damit sich verträumte Kinder besser orientieren und strukturieren können, arbeite ich mit einem Tagesplan, auf dem jeweils abgebildet ist, womit wir uns beschäftigen (Lesen, Rechnen, Bewegungspause, Partnerarbeit usw.). Auf Bildkar­­ten ist zudem ersichtlich, welches ­Material das Kind bereitlegen soll ­­(zum Beispiel Schere, Geodreieck, Heft). Wenn sprachliche Aufträge bildlich festgehalten sind, gelingt es den ­Lernenden besser, anzufangen und dranzubleiben. Das Kind kann die Bildkarten auch umdrehen, wenn ein Auftrag erledigt ist. Schweift eine Schülerin, ein Schüler ab, muss ich nicht viel sagen, sondern kann auf den Auftrag zeigen.» 

Fabienne Schnyder, Lehrerin auf Primarstufe im Kanton Zürich:

«Ich versuche bewusst – und eigentlich hilft das allen Kindern – sehr kurze und prägnante Anweisungen zu geben. Und ich sage mir immer wieder, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen oft trotzdem nicht mitbekommen, was sie machen müssen oder sich nicht merken können, was ich erkläre. Das heisst für mich, dass ich nachfrage und immer ein Auge auf sie habe, um zu sehen, ob sie den Auftrag verstanden ha­ben. Früher wäre ich vielleicht wütend geworden, jetzt sehe ich, wie viel Mühe sich diese Kinder geben und dass manche von ihnen eine engere Begleitung brauchen.

Wichtig ist mir auch ein transparenter Umgang. Wir besprechen in der Klasse oft, dass wir Menschen alle unterschiedlich sind und Vielfalt etwas Schönes ist. Ich nehme mir immer wieder Zeit, um die verschiedenen Qualitäten der Kinder im Klassenverband zu würdigen. Auf der anderen Seite gehen wir offen damit um, dass wir Schwächen haben und es beispielsweise nicht für alle Kinder gleich einfach ist, an alles zu denken. Die Kinder unterstützen sich gerne gegenseitig, wenn man sie dazu einlädt. Beispielsweise frage ich: ‹Wer hilft XY dranzudenken, dass er/sie die Finken anzieht?›»

Andrea Meier, Lehrerin auf der 1. Oberstufe im Kanton Zürich: 

«Wenn ich aufmerksam in meine Klasse schaue, sehe ich von meinen 19 Schülerinnen und Schülern zirka vier bis fünf Kinder, die unterschiedlich anwesend sind oder eben tagträumen. Mir ist es wichtig, die Schwierigkeiten meiner Lernenden besser zu verstehen und in Gesprächen mit ihnen herauszufinden, was ich als Lehrerin tun kann, um ihnen eine Hilfe zu sein. So habe ich kürzlich auch zwei Jugendliche mit Aufmerksamkeitsproblemen aus meiner Klasse befragt.

Ein Mädchen ist extrem hibbelig und schweift im Unterricht oft ab. Sie erzählte mir, dass sie meine Stimme zwar aus der Ferne in ihren Tagträumen hört, wenn ich etwas erkläre. Den Auftrag verstehe sie aber nicht, weil er einfach nicht ankommt. Wenn ich jedoch vorbeigehe, sie direkt mit ihrem Namen anspreche und ihr freundlich sage ‹Konzentriere dich›, dann falle sie aus ihrem Traum heraus und bemer­ke, wie sie wieder richtig zuhört und die Aufgabe verstehe, sagt sie. Eine weitere Hilfe sei es für sie, wenn es ganz ruhig im Zimmer ist. 
Das andere Mädchen hat eine diagnostizierte ADS, eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Sie sagt ebenfalls, dass sie Geräusche der Banknachbarn oder Bewegungen um sie herum aus der Ruhe bringen. 
Beide Mädchen haben sich gewünscht, zukünftig mit Gehörschutz zu arbeiten. Ich erhielt auch von beiden den wertvollen Hinweis, dass sie die Aufgabe viel besser verstehen, wenn sie ganz kurze, klare Instruktionen erhalten. Ich merkte, dass ich als Lehrerin aufhören muss, soviel um die Arbeitsaufträge herumzureden, da muss ich mich an der eigenen Nase nehmen.
 
So mache ich mich auf den Weg mit meinen AD(H)S-Kids und werde im Austausch mit ihnen sicher noch mehr herausfinden, was ihnen konkret im Alltag hilft.»

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Nadezhda De Salvador, Schulische Heilpädagogin im Kanton Aargau:

«Wir alle kennen das Gefühl: Habe ich alles mitgenommen, an alles gedacht? Beim Einkaufen nach dem Bezahlen: ‹Da steckt Ihre Bankkarte noch drin›, im Zug: ‹Gehört dieser Schirm Ihnen?›, im Restaurant: ‹Das ist doch Ihr Portemonnaie› Eine kurze Ablenkung, ein interessanter Gedanke, ein verträumtes Abschweifen. Mit der Zeit kennt man sich und wirft zur Sicherheit noch einen Blick zurück, kon­trolliert die Handtasche, greift noch einmal zum Türgriff. Das geht Kindern genauso. Allen, die mit Kindern arbeiten, kommt das bestimmt bekannt vor: ‹Sie, ich habe mein Etui vergessen›, ‹Sie, das Matheheft ist zu Hause›, ‹Sie, das Aufgabenbüchlein ist in der Schule geblieben›.

Ein offener Umgang damit ist wichtig. Hier kann eine Denk-Dran-Strategie Abhilfe schaffen. Ein ‹Denk daran› anstatt ein ‹Schon wieder vergessen› kann viel bewirken. Geschieht das ‹Vergessen› sehr ­häufig und wird die Situation für das Kind schwierig, weil es darunter ­leidet, ist Fantasie gefragt. Für ­vergessliche und unaufmerksame Kinder kann man einen Denk-Dran-­­­Anhänger basteln.

Es ist wichtig, das Kind miteinzubeziehen. Auf der ersten Seite ist ein Helfer (ein Superheld, ein Ausrufezeichen oder ein Selbstporträt des Kindes) gefragt. Danach folgt auf jeder Seite einzeln das Material, das das Kind einpacken und auch wieder mit in die Schule bringen sollte. Dieses Material kann man abfotografieren oder das Kind selber zeichnen lassen. Das Kind soll zu den Piktogrammen oder Bildern einen persönlichen Bezug herstellen können. Und welches ‹Ich habe es geschafft!›-Piktogramm wünscht ­­­­­es sich? Ausdrucken, laminieren, lochen, mit einer Klammer fixieren: Es kann losgehen.»


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