Um mit der technologischen Entwicklung der Zukunft mithalten zu können, müssen Kinder programmieren lernen, sagt der ETH-Informatikprofessor Juraj Hromkovic – und fordert ein eigenes Schulfach Informatik.
Herr Hromkovic, Sie sagen, Kinder sollen programmieren lernen. Warum?
Die Informatik fördert so wichtige Grundkompetenzen wie eigenständiges und kritisches Denken. Eine Tatsache, die nicht nur Spezialisten vorbehalten sein sollte. Die Informatik ist darum für mich so wichtig wie Sprach- und Matheunterricht. Kinder sollten auch das Programmieren lernen, um die digitale Welt wirklich zu verstehen, und vor allem auch zu lernen, sie zu gestalten. Auf diese Weise erziehen wir die Kinder zu kreativen Produzenten statt zu Konsumenten.
Konsum muss nicht zwingend schlecht sein.
Richtig. Schlecht ist, wenn man nur konsumiert. Genau wie ein Muskel sich abbaut, wenn er nicht gebraucht wird, entwickelt sich auch das Gehirn zurück, wenn es nie zum Schwitzen gebracht wird. Der Fokus liegt nicht auf dem Auswendiglernen, sondern auf dem Prozess des Entdeckens und der Gestaltung. Mit Informatik kehrt eine kreative konstruktive Tätigkeit in die Schule zurück.
Der Informatikprofessor Juraj Hromkovic ist überzeugt: «Um Spass am Programmieren zu entwickeln, müssen Sie kein Informatik- oder Mathegenie sein.»
Viele Menschen verbinden Kreativität nicht unbedingt mit Informatik.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus der Praxis: Ein Kollege hat ein Schulexperiment mit zwei Gruppen unternommen. Gruppe A hatte einen ordentlichen Informatikunterricht erhalten, Gruppe B hatte sogenannten ICT-Unterricht*. Das heisst: Die zweite Gruppe hat gelernt, mit bestimmten Softwarepaketen umzugehen. Beide erhielten dieselbe Aufgabenstellung. Das Resultat war interessant: Während die Gruppe B begann, nach fertigen Apps und Produkten mit den gewünschten Eigenschaften zu googeln, entwickelte die Gruppe A ein eigenes Informatikprojekt, um die Aufgabe selbständig zu lösen.
Wenn wir dies auf den Programmierunterricht an Schulen ummünzen, bedeutet dies …
dass die Kinder Lösungen selbst erarbeiten müssen. Wenn sie programmieren möchten, können sie nicht einfach Formeln auswendig lernen. Sie suchen eine Strategie, beschreiben sie und geben ihren Lösungsweg in den Computer ein, um zu testen, ob er funktioniert. Wenn es nicht klappt, überarbeiten sie ihre Herangehensweise, gehen zum «Ursprungsproblem» zurück und experimentieren mit einer neuen Lösungsstrategie.
«Informatik fördert
Grundkompetenzen wie eigenständiges und kritisches
Denken.»
Juraj Hromkovic, Informatikprofessor ETH Zürich
Die Informatik lehrt also Denkweisen?
Ja, denn die Schüler überlegen sich, wie sie ein Vorgehen entwickeln müssen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wie zum Beispiel eine Schildkröte auf dem Bildschirm bestimmte Formen zeichnen zu lassen. Das fördert das kreative Denken sehr. Auf diese Weise wird zudem ein eigenständiger und kritischer Geist gefördert, der nicht in Schubladen denkt. Ich kann mir daher nichts Besseres für die Entwicklung eines Kindes vorstellen als diesen Ansatz.
Sie sagen, das Schulfach Informatik fördere die Fähigkeit, wichtige Sprachkompetenzen zu erwerben.
Auch wenn es überraschend klingt: Das ist tatsächlich so. Viele Schüler schaffen es nicht, Sachverhalte eindeutig auszudrücken. Bei der Informatik sind sie aber gezwungen, genau dies zu tun, weil der Computer einen präzisen Auftrag benötigt, um das auszuführen, was sie möchten.
Für einen Nichtinformatiker oder für jemanden, der nicht gut in Mathe war, hört sich dies kompliziert an. Mathematisches Denken ist ja die Basis für die Informatik.
Natürlich spielt ein Talent für Mathe eine Rolle. Um Spass am Programmieren zu entwickeln und sich dabei wichtige Grundkompetenzen anzueignen, müssen Sie aber kein Informatik- oder Mathegenie sein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus unserem Programmierunterricht «Primalogo» für Primarschüler (siehe Box). Um einem Computer einen Auftrag geben zu können, muss man zuerst eine Sprache beherrschen, die er versteht. Wir unterrichten diese Programmiersprache so, dass die Kinder diese Schritt für Schritt mitentwickeln können. Das heisst: Den Kindern wird vermittelt, wie sie dem Rechner neue Wörter beibringen können, damit sie sich mit ihm einfacher verständigen können – was ihnen übrigens sehr viel Spass macht. Das Schlüsselwort ist hier «mitgestalten ». Denn sobald sie mitgestalten, lernen sie einfacher. Und sie lernen verstehen, dass Sprachen keine fertigen Produkte sind, sondern Gegenstand permanenter Entwicklung. Was uns wieder zum Thema Sprachkompetenz bringt.
Trotzdem: Mathematik ist ein Horrorfach für viele Schüler …
… oder die Schüler waren Opfer von unfairem Mathematikunterricht. Aber ohne Frage: Mathematik ist schwer. Um sie zu verstehen, braucht es viele Wiederholungen, Zeit und Training.
All dies garantiert die Schule Ihrer Meinung nach heute nicht.
Zum grossen Teil leider nicht. Sie vermittelt Lösungsmethoden, die Wissenschaftler vor 100 Jahren nach langen Bemühungen und vielen Optimierungen entwickelt haben. Den Weg dorthin aber zeigt sie nicht auf. Genau dieser Prozess sollte aber Gegenstand des Unterrichts sein.
«Um Spass am Programmieren zu
entwicklen, muss ein Kind kein
Mathegenie sein.»
Juraj Hromkovic, Initiator des Projekts Primalogo
Was schlagen Sie vor?
Eine Möglichkeit wäre, kleine Klassen speziell für den Matheunterricht einzurichten, in deren Rahmen jede Schülerin und jeder Schüler individueller gefördert werden könnte. Das ist aber finanziell unrealistisch. Mehrere ETH-Projekte im Bereich der Mathematik und Informatik – wie etwa der Lehrstuhl für Mathematik und Unterricht, das Ausbildungs- und Beratungszentrum ABZ und das MINT-Zentrum (siehe Box) – verfolgen darum einen anderen Ansatz: Wir schreiben neue Lehrmittel. So behandeln wir zum Beispiel in diesen Büchern Mathematik als Forschungsinstrument, mit dem man die Welt entdecken und mitgestalten kann. Wir bauen die Themen langsam und verständlich auf, so dass man auch als Schüler ohne eine Lehrperson zu einem grossen Teil selbständig lernen und selbst überprüfen kann, ob man alles richtig verstanden hat.
Lernen Buben eigentlich anders Mathematik als Mädchen?
Jungs haben eine höhere Risikobereitschaft. Sie sind bereit, längere Zeit in eine Richtung zu gehen, ohne zu kontrollieren, ob es die richtige ist. Sie experimentieren viel. Mädchen gehen methodisch anders vor: Für sie ist es wichtiger, immer wieder zu überprüfen, ob sie sich auf dem richtigen Lösungsweg befinden. Wenn der Mathematikunterricht und das Lehrmaterial aber den Mädchen die Zeit und den Raum geben, mathematische Lösungen auf ihre Art und Weise zu erarbeiten, dann schneiden beide Geschlechter gleich gut ab.
Sie kritisieren, dass an Schulen zu viele «Fertigprodukte» gelehrt würden …
… die den Schülern nicht erklären, warum man sich für eine bestimmte Vorgehensweise entschieden hat. Die Genesis, der Ursprung des vermittelten Wissens, bleibt im Dunkeln. Noch ist es ja meist so, dass Mathematik, wie Sprachen übrigens auch, als «Fertigprodukt » gelehrt wird. Damit meine ich, dass die Schülerinnen und Schüler meist nicht viel über den Prozess erfahren, der dazu geführt hat, dass sich der Aufbau einer Sprache oder ein mathematisches Konzept in der heutigen Form präsentiert. Dabei erleichtert gerade das Wissen um diese Entwicklungen das Lernen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir die Multiplikation. Wenn Kinder heute das Multiplizieren lernen, tun sie dies meist auf der Basis des Auswendiglernens. Dabei würden sie es viel schneller lernen, wenn sie die Entwicklung und den Aufbau unseres Dezimalsystems verstünden oder wenn sie erfahren würden, wieso sich dieses Dezimalsystem im Umgang mit Zahlen besser eignet als andere Zahlensysteme wie beispielsweise das römische Zahlensystem. Verschiedene Zahlendarstellungen verschiedener Zivilisationen haben ja miteinander konkurriert. Das Dezimalsystem hat gewonnen, weil die Zahlendarstellung kurz ist und dies eine effiziente Ausführung von grundlegenden arithmetischen Operationen ermöglicht.
«Wir müssen in Zukunft die Maschinen beherrschen und steuern können, um ihnen Aufgaben übertragen zu können»
Das hört sich sehr zeitintensiv an und sprengt wohl den vollbepackten Stundenplan.
Diese Überlegung darf nicht der Ansatz eines Bildungssystems sein. Ansonsten werden die Schüler der Zukunft nur die Produkte der neuen Technologie bedienen, aber nicht die Entwicklung der Technologien mitgestalten können.
Was meinen Sie damit?
Die Technik automatisiert immer mehr Tätigkeiten, die vorher Menschen ausgeführt haben. Die Menschen gewinnen somit die Freiheit, sich kreativen Tätigkeiten zu widmen, statt wiederholende Routineabläufe abzuspulen.
Heisst das nicht auch: Wenn wir nicht aufpassen, werden wir von der technologischen Entwicklung überrollt?
Nun: Die Menschheit wurde durch die Technologie so effizient, dass eine immer kleinere Zahl von Menschen physisch arbeiten muss, um existenzielle Bedürfnisse der Gesellschaft wie die Produktion von Nahrungsmitteln oder den Wohnungsbau zu sichern. Das bedeutet: Wir benötigen inskünftig keine ausführenden, sondern eigenständige Menschen mit forschenden Denkweisen, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Daher wird schon in naher Zukunft der Anspruch an den modernen Menschen sein, dass er kreativ ist und sein gut trainiertes Gehirn einsetzt.
Und hier kommt der Programmierunterricht ins Spiel.
Wir müssen in Zukunft die Maschinen beherrschen und steuern können, um ihnen Aufgaben übertragen zu können. Programmieren zu können, wird eine Kompetenz werden, die vergleichbar sein wird mit der des Schreibens und Lesens.
«In einer nahen Zukunft wird der Anspruch an den modernen Menschen sein, kreativ zu sein und sein gut trainiertes Gehirn einzusetzen.»
Juraj Hromkovic, Experte für theoretische Informatik.
Seit mehr als zwölf Jahren bringen Sie Kindern das Programmieren bei. Welche Rückmeldungen erhalten Sie?
Die Kinder sind begeistert und stolz, wenn sie etwas meistern, das sie als schwer empfunden haben, oder wenn sie es schaffen, etwas herzustellen, was herausfordernd war. Dazu braucht es eben keine «coole» App auf dem Smartphone. Die Rückmeldungen aus unserem Programmierunterricht «Primalogo» bestätigen dies. Viele Schüler wollen sogar nicht mehr in die Pause gehen, weil sie sich von ihrer Programmieraufgabe nicht losreissen können. Oder sie sagen: «Ich kann noch nicht heimgehen, ich habe das noch nicht fertig gemacht.»
Nun ist das Fach Programmieren auch im Lehrplan 21 verankert. Das wird Sie freuen.
Nur zum Teil. Die Informatikinhalte sind zwar im Lehrplan 21 vorhanden, aber zusammengepackt mit Medienbildung und ICT. Es besteht die Gefahr, dass eine falsch verstandene Art von Informatik in den Lehrplan implementiert wird. Was die EDK als Schulfach «Medien und Informatik» bezeichnet, ist ein Mix aus Medienkunde, Anwenderwissen und Informatik.
Was heisst das für die Praxis?
Die meisten Dozenten an pädagogischen Hochschulen sind keine ausgebildeten Informatiker, sondern Professoren, die Medienkunde studiert haben. Sie fokussieren sich darum nur auf das Reflektieren und auf die Nutzung der modernen Kommunikationstechnologien sowie das Gestalten eigener medialer Auftritte. Der Umgang mit Facebook oder Excel-Kenntnisse haben aber mit echtem Informatikunterricht ungefähr so viel zu tun wie Autofahren mit Maschinenbau. Wenn also die Dozenten der Medienkunde den Informatikunterricht übernehmen würden, und so sieht es in einigen Kantonen derzeit aus, dann käme kein echter Informatikunterricht zustande.
2005 gründete Prof. Dr. Juraj Hromkovic an der ETH das Ausbildungs- und Beratungszentrum ABZ für Informatik. Zu den bekanntesten Projekten gehört der Programmierunterricht «Primalogo» für Primarschüler.
Sie kritisieren die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK, dass beim Lehrplan 21 bei der Konzipierung eines Unterrichtsfachs Informatik Fachleute ausgeschlossen waren.
Beim Entwurf des Lehrplans 21 wurden nicht im notwendigen Mass Fachleute von Universitäten und ETH beigezogen. In der Kommission für Mathematik sass kein einziger diplomierter Mathematiker, nur Beamte und Didaktiker. Dasselbe bei den Informatikern, bis ich dazugestossen bin. Wenn in den Kommissionen keine Experten sitzen, kann auch keine Vision mit tieferen Zusammenhängen entstehen.
Im Rahmen des Programms «Primalogo» werden aber auch Lehrpersonen darin ausgebildet, Programmieren zu vermitteln.
Die ETH ist nicht in der Lage, die Anzahl an Primarlehrpersonen auszubilden, die es braucht, um den Bedarf zu decken. Ich denke auch, dass es nicht unsere Aufgabe ist, dies zu leisten. Das Ziel der Projekte des ABZ ist es primär, pädagogische Hochschulen zu motivieren, im Fach Informatik auf hohem Niveau auszubilden. In den USA, Grossbritannien und Frankreich hat man Informatik von Medienbildung getrennt und ICT als eigenes Schulfach eingeführt. Und in Osteuropa pflegt man die Informatik seit mehreren Jahrzehnten als hochangesehenes Fach. Wenn wir also in der Schweiz über die Einführung des Schulfachs sprechen, geht es nicht darum, eine Vorreiterrolle einzunehmen, sondern einem schon fahrenden Zug nicht mehr hinterherzulaufen.
Welche Erfahrungen machen Sie mit den Lehrpersonen, die zu Ihnen in die Kurse kommen? Als Erwachsener das Programmieren zu lernen, ist sicher schwieriger.
Dem möchte ich gerne widersprechen. Wir hatten im Rahmen unserer ABZ-Programmierausbildungen viele Erwachsene und sogar Rentner, die trotz bisherigen frustrierenden Erfahrungen mit dem Programmieren eine Begeisterung für diese Tätigkeit entwickelt haben. Der Einstieg ins Programmieren ist auch für Erwachsene nicht so schwierig, wenn man es richtig gestaltet. Aber eben, dazu braucht es geschulte Informatiker, die darin ausgebildet wurden, dieses Fach richtig zu vermitteln.
*ICT: Information and Communication Technology oder zu Deutsch IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie) umfasst Computer, Handy und das Internet sowie das Wissen um deren Anwendung.
Dieser Beitrag wurde am 18. April 2018 aktualisiert.
Info-Box
MINT-Lernzentrum
Das Ziel des MINT-Lernzentrums der ETH Zürich ist es, das schulische Lernangebot in den MINT-Bereichen nachhaltig zu optimieren. MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Das MINT-Lernzentrum ist Teil des ETH-Kompetenzzentrums für Lehren und Lernen, EducETH. Im MINT-Lernzentrum entwickeln Lehr- und Lernforscherinnen und Lehr- und Lehrforscher gemeinsam mit erfahrenen Gymnasiallehrpersonen Unterrichtseinheiten zu zentralen Themen der Schulfächer Biologie, Chemie, Mathematik und Physik.
Website: www.educ.ethz.ch/lernzentren
«Primalogo»
«Primalogo» führt Schülerinnen, Schüler und Lehrpersonen in die Welt der Informatik ein. Mit Hilfe der kindergerechten Programmiersprache Logo werden die Grundlagen für eine Informatikbildung gelegt. Lehrpersonen der 5. bis 7. Primarklasse lernen, wie sie in ihren Klassenunterricht Logo-Unterrichtseinheiten einbauen und ihrer Klasse erste Erfahrungen im Entwickeln von Programmen vermitteln können. Das Projekt wird zurzeit von der Hasler Stiftung unterstützt. Die Finanzierung ist nur noch bis Herbst 2017 gesichert.
Websites: www.primalogo.ch und www.abz.inf.ethz.ch/primalogo-kurse
EDK
Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) ist der Zusammenschluss der 26 kantonalen Regierungsmitglieder der Schweiz, die für Erziehung, Bildung, Kultur und Sport verantwortlich sind. Das Fürstentum Liechtenstein ist ständiger Gast der Konferenz mit beratender Stimme.
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Zur Person:
Juraj Hromkovic ist Experte für theoretische Informatik. Seit 2004 ist er als Professor an der ETH für die Ausbildung von Informatiklehrern verantwortlich. 2005 gründet Hromkovic an der ETH das Ausbildungs- und Beratungszentrum ABZ für Informatik. Zu den bekanntesten Projekten gehört der Programmierunterricht «Primalogo» für Primarschüler, an dem bislang mehr als 100 Schulen mit über 3000 Schülerinnen und Schülern in der Deutschschweiz teilgenommen haben. Website:
www.abz.inf.ethz.ch
Zur Autorin:
Irena Ristic ist Online-Redaktorin beim ElternMagazin Fritz+Fränzi. Sie betreut die Webseite
www.fritzundfraenzi.ch