Hilfe! Meine Nachbarin küsst ihr Kind auf den Mund

Eine Nachbarin gibt ihrem Sohn, 7, und ihrer Tochter, 9, am Morgen zum Abschied einen Kuss auf den Mund. Für mich ist das eine klare Grenzüberschreitung: Diese Art des Küssens ist doch ein Austausch von Intimitäten unter Liebenden. Oder bin ich verklemmt?
Beatrice, 38, Grosshöchstetten BE
Das sagen unsere Experten dazu:

Meine Grosstante, eine Italienerin, hat mich jeweils auch auf den Mund geküsst zur Begrüssung, was ich als Kind befremdend fand. Zumindest bis ich beobachtete, dass das in ihrer Familie gang und gäbe war. Ein Kuss auf den Mund ist eben nicht in jeder Kultur und nicht in jeder Familie eine Intimität, die bloss Liebenden vorbehalten ist, sondern manchmal bloss ein Alltagsritual.

Man kann das persönlich als befremdlich oder zu intim empfinden. Als Nachbarin geht es einen aber schlichtweg nichts an. Psychisch gesunde Kinder zeigen ihren Eltern in der Regel recht schnell, wenn ihnen eine solche Form des Körperkontakts unangenehm ist. Sie wenden den Kopf ab, laufen mit einem vorschnellen «Tschüss» einfach weg oder sagen ihren Eltern klipp und klar, dass sie fürs Kuscheln oder Küsschengeben jetzt zu gross sind. Wichtig ist, dass sich Kinder nicht genötigt fühlen – das gilt aber auch für den Kuss auf die Wange bei den Grosseltern.

Sie sind nicht verklemmt. Aber Sie erheben Ihr individuelles Empfinden zum Mass aller Dinge. Warum soll es in anderen Familien nicht anders zugehen als in der eigenen Familie? Bei den einen küsst man sich auf die Backe, bei den anderen auf den Mund. Das ist oft das Beklemmende an Erziehungsdiskussionen: das Unverständnis für das andere Leben der anderen. (Entschuldigung, dass ich nun selber noch grundsätzlich geworden bin.)
Unsere Experten:
Nicole Althaus, 51, ist Chefredaktorin Magazine und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am Sonntag», Kolumnistin und Autorin. Sie hat den Mamablog auf tagesanzeiger.ch initiiert und geleitet und war Chefredaktorin von «wir eltern». Nicole Althaus ist Mutter von zwei Kindern im Alter von 20 und 16 Jahren.
Stefanie Rietzler ist Psychologin, Autorin
(«Geborgen, mutig, frei», «Clever lernen») und leitet die Akademie für Lerncoaching in Zürich. www.mit-kindern-lernen.ch
Peter Schneider, 62, ist Kolumnist, Satiriker, Psychoanalytiker, Privatdozent für klinische Psychologie an der Uni Zürich und Gastprofessor für Geschichte und Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse in Berlin.
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