Mein Kind hat Angst vor Neuem

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Bei Ängsten denken wir an Spinnen, Hunde, enge Räume, Höhen oder Prüfungen. Für manche Kinder reicht jedoch eine neue Situation aus, um sie zu blockieren. Diese Kinder brauchen geduldige Erwachsene.
Das Wichtigste zum Thema
Der 5-jährige Leander ist ein sehr ängstliches Kind. Neue Situationen erschrecken ihn. Die Eltern sind sich beim Umgang mit diesem Verhalten nicht einig. Während der Vater seinem Sohn immer wieder sagt, er solle sich nicht so anstellen, nimmt die Mutter das Kind in Schutz und gestalten seinen Alltag so, dass es möglichst wenig Situationen erlebt, die eine Stressreaktion auslösen könnten. Welches ist der richtige Weg, um Leander zu helfen?
Fabian Grolimund hat Erfahrung mit ängstlichen Kindern und gibt im Artikel diese Erfahrungen weiter. Konkrete Beispiele helfen zu verstehen, wie man ein Kind mit seiner Angst begleiten und ihm helfen kann. Er erklärt aber auch, welche Gefühle die Reaktionen anderer bei den Betroffenen auslösen.
Sein Rat: Eltern und Lehrpersonen müssen dem Kind zwingend die Zeit geben, die es braucht, um sich an eine neue Situation zu gewöhnen.
Sie haben selbst ein ängstliches oder sehr vorsichtiges Kind? Erfahren Sie im Artikel, welcher Weg zum Erfolg führen kann und profitieren Sie von nützlichen Tipps des Experten.
Kriegstraumatisierte Kinder aus Ex-Jugoslawien versteckten sich unter den Pulten. Der Lehrer setzte sich zu ihnen und unterrichtete unter dem Tisch.
Den Spielplatz suchen sie nur auf, wenn nicht zu viele andere Kinder zu sehen sind. Während Leanders Vater der immer enger werdende Bewegungsradius zunehmend stört, hat sich seine Mutter damit abgefunden. Ihr Stresslevel steigt jedoch erheblich, als er eingeschult wird und die Aussenwelt zunehmend Forderungen an ihn stellt. Sie sieht sich gezwungen, immer mehr Personen das Verhalten ihres Kindes zu erklären. Dabei fühlt sie sich von ihrem Mann alleine gelassen, der sich geniert und meint: «Du kannst doch nicht von allen verlangen, dass sie unseren Sohn in Watte packen.» Leanders Mutter sieht die Aussenwelt zunehmend als Feind, gegen den sie ihr Kind schützen muss. Wie können Eltern aus dieser Situation herausfinden und ihr Kind unterstützen? In unseren Seminaren sind uns immer wieder Eltern begegnet, die sehr vorsichtige Kinder haben und einen positiven Umgang damit gefunden haben. Die folgenden Punkte empfand ich dabei als besonders hilfreich.
Neues langsam erkunden
Als sie das zweite Mal da waren, putzte die Hauswartin die Böden und liess sie sogar einen Blick in das zukünftige Klassenzimmer werfen. Die Mutter meinte: «Meine Tochter braucht Zeit – je mehr sie etwas in Ruhe anschauen darf, je konkreter es wird und je besser sie sich vorstellen kann, was auf sie zukommt, desto mehr verliert sie die Angst. Sie muss einfach wissen: Hier werde ich hingehen, hier werde ich sitzen, das kommt auf mich zu. Beim Klassenlager haben wir es auch so gemacht: Wir sind einfach hingefahren und haben uns das Lagerhaus und die Umgebung angeschaut.»
Nach drei Monaten zuschauen tanzte das Mädchen mit
Akzeptieren es Erwachsene nicht, wenn Kinder mehr Zeit brauchen, kann dies schwerwiegende
Folgen haben.
Der Junge hatte danach solche Angst vor der Kindergärtnerin, dass er sich über Wochen weigerte, in den Kindergarten zu gehen. Ganz anders ist eine Tanzlehrerin damit umgegangen. Sie liess ein Mädchen einfach zuschauen: Es stand im Trikot am Rand und beobachtete sehr interessiert, was passierte. Die Lehrerin fragte jedes Mal: «Möchtest du heute mitmachen?» Nach drei Monaten stand sie plötzlich in der Reihe – und alle stellten überrascht fest, dass sie die Choreografie mittanzen konnte.
Druck weg – und es klappt
Ein Lehrer und Heilpädagoge erzählt: «Nach dem Jugoslawien-Krieg hatten wir viele traumatisierte Kinder an unserer Schule. Manche Kinder haben sich unter dem Tisch versteckt. Ich habe mich dann zu ihnen gesetzt. In dieser Zeit habe ich sehr oft unter den Pulten unterrichtet. Sie mussten zuerst lernen, dass sie in der Schule sicher sind. Ich habe ihnen einfach immer wieder vorgeschlagen, dass wir uns auch auf die Stühle setzen können. Irgendwann waren sie dann so weit.»
Es ist wichtig, dass wir Kinder, die Zeit brauchen, nicht einfach abstempeln und ihnen das Gefühl geben, dass sie «es sowieso nie können werden ». Ohne Druck können wir ihnen immer wieder Angebote machen und die Zuversicht äussern, dass irgendwann der Tag sein wird, an dem sie den nötigen Mut haben werden, sich einer neuen Situation zu stellen. Und wenn es so weit ist, können wir uns gemeinsam mit dem Kind freuen, dass sein Bewegungsradius gewachsen ist.
Kurztipps
- ihnen dabei helfen, ihre Gefühle zu verstehen.
- akzeptieren, dass sie mehr Zeit benötigen.
- immer wieder Zuversicht äussern, dass das Kind eines Tages soweit sein wird und ihm Angebote machen.
- neue Situationen mit ihm auskundschaften oder das Kind zuerst beobachten lassen.
- dem Kind zeigen, was es sagen und tun kann, wenn es gestresst ist («ich brauche noch ein wenig Zeit» oder «ich möchte zuerst nur zuschauen»).
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