Herr Bauer, warum reagieren Kinder aggressiv? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Bauer, warum reagieren Kinder aggressiv?

Lesedauer: 4 Minuten

Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer erklärt, wann sich Kinder aggressiv verhalten, welche Rolle die Medien spielen und warum Männer mehr Gewalttaten begehen als Frauen. 

Herr Bauer, wie definieren Sie Aggression?

Als Aggression wird ein Verhalten bezeichnet, welches darauf gerichtet ist, einem anderen Menschen etwas zu sagen oder zuzufügen, was von diesem als Konfrontation, als unangenehm oder als schmerzhaft erlebt wird.

Ist ein gewisses Aggressionspotenzial angeboren?

Aggression ist ein angeborenes Verhaltensprogramm, das abgerufen werden kann. Die Fähigkeit, bei Bedarf aggressiv sein zu können, ist überlebenswichtig. Aber aus neurobiologischer Sicht gibt es keinen sogenannten Aggressionstrieb, also keine biologisch verankerte Lust auf physische oder psychische Gewalt. Die Aggression und die Angst sind Geschwister – sie benützen im Gehirn ganz ähnliche neuronale Systeme. Niemand würde von einem «Angsttrieb» – also einem Bedürfnis nach Angst – sprechen, nur weil fast alle Menschen immer wieder Angst erleben.
Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut. Er lebt, forscht und arbeitet in Berlin. Bauer ist Autor zahlreicher Bestseller («Das Gedächtnis des Körpers», «Warum ich fühle, was du fühlst», «Lob der Schule»).
Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut. Er lebt, forscht und arbeitet in Berlin. Bauer ist Autor zahlreicher Bestseller («Das Gedächtnis des Körpers», «Warum ich fühle, was du fühlst», «Lob der Schule»).

Wenn es nun aber gesunden Menschen zuwider ist, anderen Leid zuzufügen – ist dann jeder Verbrecher ein Psychopath? Und hat jedes Kind, das sich prügelt, ein psychisches Problem?

Nein. Dass es keinen Aggressionstrieb gibt, bedeutet nicht, dass gesunde Menschen keine Aggression zeigen. Ein Aggressionstrieb, so wie ihn sich Sigmund Freud vorgestellt hat, würde aber bedeuten, dass es zum normalen Bedürfnisprogramm ganz normaler Menschen gehört, anderen ab und zu einmal – ohne jeden Anlass – Böses zuzufügen oder immer wieder einmal einen Krieg zu führen. Diese Annahme ist falsch. Jede Aggression hat Gründe … 
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Dieser Artikel ist Teil des Online-Dossiers Aggression bei Kindern.Hier finden Sie eine Übersicht mit allen relevanten Artikeln zum Thema. -> zum Dossier Aggression bei Kindern

Wann verhalten sich Kinder aggressiv?

Immer dann, wenn ein anderer im Weg steht. So zum Beispiel ein 3-Jähriger, der ein Geschwisterchen bekommt, das nun die ganze Aufmerksamkeit abzieht. Oder wenn knappe Ressourcen verteilt werden, also zum Beispiel wenn ein Kuchen aufgeteilt wird, oder wenn nicht alle das gleiche attraktive Spielzeug haben können. Wenn ein Kind von einem anderen dann geschubst oder geschlagen wird, entstehen schnell Aggressionskreisläufe. Genauso läuft es auch zwischen Staaten, die nicht aus Konflikten herausfinden.

Aggressionen werden durch das Tangieren der neurobiologischen Schmerzgrenze ausgelöst. Was genau ist das?

Sicherster und zuverlässigster Auslöser für Aggression ist die Zufügung körperlicher Schmerzen. Dazu braucht es nicht einmal einen anderen Menschen. Schauen Sie, welche Wut in Menschen aufsteigt, wenn sich jemand – ohne fremdes Zutun – den Finger richtig böse in einer Tür eingeklemmt hat! Die Schmerzzentren des Gehirns werden aber nicht nur dann aktiviert, wenn uns körperlich wehgetan wird, sondern auch dann, wenn wir sozial zurückgewiesen, ausgegrenzt oder unfair behandelt werden. Auch dann ist unsere Schmerzgrenze erreicht. Wo diese genau liegt, ist aber sehr individuell.

Jeder Mensch muss lernen, dass aggressive Gefühle in sich zu spüren und sich aggressiv zu verhalten, zwei Schritte sind.

Wenn Aggression immer eine Reaktion auf etwas ist, heisst das, dass Täter immer auch Opfer sind oder waren? 

Ja, aber das entschuldigt nichts. Der Mensch hat von der Evolution nicht nur einen Aggressionsapparat mitbekommen, sondern auch ein Stirnhirn, das ihn in die Lage versetzt, sich selbst zu beobachten und sich zu bremsen, wenn es das soziale Zusammenleben erfordert. Diese Fähigkeit, die wir durch Erziehung erlernen, war unser evolutionäres Erfolgs­ ticket. Ohne Erziehung kann das Stirnhirn nicht in Funktion kom­men. Erziehung ist also keine kontra­biologische Erfindung, sondern gehört zur biologischen Bestim­mung des Menschen. Der Mensch muss lernen, dass aggressive Gefüh­le in sich zu spüren und sich aggres­siv zu verhalten, zwei Schritte sind.

Warum ist Aggression wichtig?

Sie ist unverzichtbar, um Störungen im sozialen Feld anzuzeigen und zu regulieren. Warum merke ich, dass ich unfair oder respektlos behandelt wurde? Nicht weil ich mich hinsetze und das rational berechne, sondern weil zunächst einmal Ärger oder Wut in mir aufsteigt. Erst in einem zweiten Schritt fangen wir dann an nachzudenken.

Warum reagieren wir nicht nur auf körperliche Schmerzen aggressiv, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung?

Schuld ist die Evolution. Beides ist potenziell gefährlich, sowohl der körperliche Angriff als auch der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Unsere Vorfahren gerieten auch dann in Lebensgefahr, wenn letzte­res geschah.

Welche Rolle spielen Medien, Ballerspiele, Filme und Spielzeugwaffen? 

Kinder lernen am meisten von dem, was sie sehen, sie lernen am Modell. Gewaltspiele und andere Angebote, wo Kinder beobachten und erleben können, dass sich Gewalt lohnt, haben einen verheerenden erziehe­rischen Einfluss.

Welche anderen Voraussetzungen begünstigen kindliche Aggression?

Gute zwischenmenschliche Bindun­gen setzen die Schmerzgrenze her­auf. Wer sich in seiner Familie oder bei Freunden gut aufgehoben fühlt, lässt sich im Alltag von anderen nicht so schnell provozieren. Mit anderen Menschen gut verbunden zu sein, aktiviert die Ausschüttung von Botenstoffen, welche den Aggressionsapparat dämpfen. Umgekehrt begünstigt – auch bei Kindern – das Gefühl, ausgegrenzt zu werden, Aggressionen.
Was tun, wenn das Kind aggressiv ist? Unser grosses Dossier-Thema im Mai 2018. Sie können das Heft hier bestellen.
Dieser Text stammt aus unserem grossen Dossier zum Thema Aggression aus dem Magazin 05/18. Die Ausgabe ist mittlerweile leider vergriffen. Im Online-Dossier Aggression bei Kindern finden Sie die einzelnen Artikel aus dieser Ausgabe und weitere Texte zum Thema. 

Wie erklären Sie «Parent Battering», also Aggression des Kindes gegen die Eltern, aus neurobiologischer Sicht?

Das passiert vor allem dort, wo zwi­schen Eltern und Kindern keine verlässlichen Bindungen entstehen konnten, wo Eltern zu sehr im Stress oder nur mit sich beschäftigt waren. Oder wo Kinder ihrerseits von ihren Eltern Gewalt erlebt haben.

Männer begehen mehr Gewalttaten als Frauen. Sind Buben aggressiver
als Mädchen?

Buben lenken, wenn Aggression in ihnen aufsteigt, die Gewalt stärker nach aussen. Mädchen neigen eher zu Aggression gegen sich selbst und werden depressiv oder verletzen sich selbst. Was aber nicht heisst, dass alle Jungs so und alle Mädchen so sind. Jungs neigen, wenn sie sich ärgern, eher zu offener Aggression, Mäd­chen üben lieber sogenannte relati­onale Gewalt aus, das heisst zum Beispiel, sie reden schlecht über den, über den sie sich ärgern.

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