«Wir geben David nicht auf»  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wir geben David nicht auf» 

Lesedauer: 2 Minuten

Der Sohn von Barbara Gerber* ist 15, als er anfängt, intensiv zu ­kiffen. Wenige Jahre später ist David heroinabhängig.

«Das Allerschlimmste war die Machtlosigkeit. Dieses Gefühl, alles tun zu wollen und doch nichts tun zu können. Seit mehr als 15 Jahren lebe ich inzwischen mit diesem Gefühl, daran gewöhnt habe ich mich nicht. David, unser älterer Sohn, war fünfzehneinhalb Jahre alt, als er plötzlich angefangen hat, intensiv zu kiffen. Mir war sofort klar, dass das gefährlich werden kann. David ist schon immer ein Draufgänger gewesen: Bei allem, was er getan hat, egal ob Skifahren, Schwimmen oder Partymachen mit Kollegen, stürzte er sich ins Ganze, nahm grosse Risiken in Kauf. Als er immer öfter schlechte Noten heimbrachte und plötzlich Geld in unseren Portemonnaies fehlte, haben wir Hilfe bei einer Suchtberatung gesucht. Doch alle Versuche, vernünftig mit David zu reden, scheiterten. Die Sucht war schneller. Er war bald auf Kokain, dann auf Heroin. Und unerreichbar für uns. Jahrelang haben wir alles versucht, um ihm zu helfen. Ihn immer wieder motiviert, seine Probleme aus dem Weg geräumt, ihm Geld gegeben. Und hatten ständig die Angst im Nacken, dass er sich aus Versehen mal zu viel spritzt.

Ich habe lange mit niemandem über Davids Probleme gesprochen. Ein drogensüchtiges Kind? Das war ein Tabuthema, ein Stigma. Ich bin eigentlich eine Frohnatur, aber mir ging es grottenschlecht. Mich zu verstellen, hat unendlich Kraft gekostet. Vielen fiel etwas auf, Freunde und Kollegen fragten, was los sei. Aber ich habe abgewiegelt und bin aus dem Raum gegangen, wenn Bekannte mit einem gleichaltrigen Kind von dessen Erfolgen erzählt haben. Unser jüngerer Sohn hatte auch eine Phase, in der er ein bisschen ausprobiert hat. Einmal hatte er zu viel Alkohol getrunken und gekifft, er lag high auf dem Sofa, ich habe ihn nicht wach bekommen. Ich bin fast durchgedreht, ich habe ihn angebrüllt und war total panisch – das war das einzige Mal, dass ich so ausgerastet bin, aber es hat mir gezeigt, dass ich auf mich aufpassen muss. Für mich war ein Schlüssel­erlebnis, als ich gemerkt habe, wie sehr unser jüngerer Sohn unter all dem litt. Und die Erkenntnis, dass ich mit meinem Mann alt werden wollte, nicht mit unserem drogenkranken Sohn, um den sich in dieser Zeit alles drehte. Wir haben erkannt, dass wir einander in dieser Phase nicht mehr helfen konnten.

Deshalb sind wir schliesslich zur Psychologin gegangen. Dank ihr habe ich mich dann getraut, offener mit der Sucht meines Sohnes umzugehen. Das hat enorm viel Druck weggenommen. Die Frage nach dem Warum treibt mich bis heute um. Natürlich überlegt man ständig, was man hätte anders machen können, wo man vielleicht falsch reagiert hat, welche Situation entspannter hätte laufen müssen – doch das ist alles Spekulation. Es ist, wie es ist, und wir müssen damit umgehen. Dazu gehört, dass wir David trotz aller Enttäuschungen, Lügen und Verzweiflung nicht aufgeben, wir halten nach wie vor den Kontakt. Und wir verbringen niederschwellig eine gute Zeit miteinander: Einmal im Jahr fahren wir alle gemeinsam in die Skiferien. David substituiert in dieser Zeit mit Methadon.

Die Erlebnisse in den vergangenen Jahren haben uns als Familie enger zusammengeschweisst. Die Art und Weise, wie wir miteinander und auch mit anderen umgehen, hat sich verändert, wir sind reflektierter, benennen ­Probleme, die da sind, zeigen Verständnis für­einander. Das war ein langer Prozess und ich weiss nicht, ob wir heute am gleichen Punkt stehen würden, wenn uns das Leben mit David nicht da hingebracht hätte.»

*Namen geändert

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Dieser Artikel gehört zum Online-Dossier Sucht. Lesen Sie mehr zu folgenden Fragen: Wann müssen Eltern hellhörig ­werden? Wie sollen Mütter und Väter reagieren, wenn der Sohn rund um die Uhr am Gamen ist oder die Tochter ­volltrunken heimkommt? Wann ist viel zu viel? 


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