Es braucht Mut, Kindern Freiräume zu schenken

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Um sich selbst besser kennenzulernen und kreativ werden zu können, müssen sich Kinder langweilen dürfen und viel Zeit mit anderen Kindern verbringen. Doch dazu müssen sich Eltern gegen den Zeitgeist stellen.
Auf der anderen Seite beschleicht uns das schlechte Gewissen: Haben die eigenen Kinder genügend Zeit für sich? Machen wir alles richtig? Wann waren wir das letzte Mal im Wald? Und hat es den Kindern da wirklich so gut gefallen?
Was wir auch wissen: Die Freiräume sind in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden. Die Bevölkerungs- und Bebauungsdichte und der Verkehr haben zugenommen, und die Orte, an denen Kinder ungestört spielen können, verschwinden zunehmend. Gleichzeitig verbringen die Kinder viel mehr Zeit in Tagesstrukturen, Vereinen oder Sportangeboten. Ihre Freizeit wird mehr und mehr von Erwachsenen durchorganisiert.
Was braucht es, damit Kinder wieder die nötigen Frei- und Gestaltungsräume erhalten? Und was kann jeder Einzelne von uns dazu beitragen, anstatt sich nur die «gute alte Zeit» herbeizusehnen? In vielerlei Hinsicht braucht es dazu von uns Erwachsenen eine Haltungsänderung, Mut und eine Portion guter Ideen.
Was ist, wenn etwas passiert?
Die jetzige Elterngeneration hat ein viel höheres Sicherheitsbedürfnis als unsere eigenen Eltern und Grosseltern. Wenn es uns ernst ist mit der Freiheit unserer Kinder, müssen wir uns immer wieder überwinden, unsere eigenen Ängste ein Stück weit auszuhalten. Ich bin eigentlich kein sorgenvoller Typ, aber seit ich Kinder habe, hat sich etwas verändert. Plötzlich verfüge ich über einen gut ausgebauten Gefahrenradar und sehe alles, was passieren könnte. Sich mit Warnungen zurückzuhalten und die Kinder an der «langen Leine» zu lassen, braucht immer wieder Überwindung. Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir uns regelmässig fragen, wo wir etwas mutiger werden können, wo wir unseren Kindern mehr zutrauen dürfen.
Was geschieht, wenn ich die Kontrolle abgebe?
Die Schulsozialarbeiterin meinte: «Es war fast nicht auszuhalten. Die ersten zwei Wochen passierte einfach nichts! Sofort machten sich Zweifel breit: Sind sie mit der Aufgabe überfordert? Haben sie überhaupt Lust drauf? Was ist, wenn am Ende einfach nichts steht?» Sie hatte Angst, vor den Kollegen und den Eltern blöd dazustehen. Schliesslich sagte sie sich: «Wenn es nichts wird, dann wird es halt nichts. Ich zieh das jetzt durch. Sonst gibt es halt Chips und Cola.» Schliesslich haben die Kinder alle überrascht. Es wurde ein richtig tolles Fest mit gutem Essen und einem bunten Programm. Seither ist es an dieser Schule zur Tradition geworden, dass die Sechstklässler die Organisation des Sommerfests übernehmen.
Warum ist es so schwierig, die Kinder machen zu lassen?
Erzieherinnen und Lehrpersonen, die sich zugunsten der Kinder zurücknehmen und Kritik riskieren, weil es mal eine Schramme gibt oder scheinbar zu wenig gelernt wurde, brauchen den Zuspruch und Rückhalt von uns Eltern. Diesen können wir ihnen nur geben, wenn wir uns bewusst machen, wie wertvoll diese Erfahrungen für unsere Kinder sind.
Lernt mein Kind genug?
Wir geben damit auch die Kontrolle über den Lernprozess ab. Das fällt uns schwer, weil wir Erwachsenen den sicht- und planbaren Erfolg mögen. Wenn wir ein Kind in die Musikstunde schicken, können wir zusehen, wie es immer anspruchsvollere Stücke spielt, und einmal pro Jahr eine Aufführung geniessen.
Wenn die Jugendliche mit ihren Freundinnen eine Garagenband gründet, ist das nicht der Fall. Sie wird wahrscheinlich nicht die gleichen Fortschritte auf ihrem Instrument erzielen wie die Kollegin, die den Musikunterricht besucht und brav zu Hause übt. Wie viel ihr diese Erfahrung gebracht hat, wird sich vielleicht erst viel später zeigen, wenn sie sagt: Mit meiner Band war ich kreativ, habe gelernt, mit etwas Eigenem mutig gegen aussen zu gehen, kleine Auftritte zu erkämpfen, mit Lampenfieber umzugehen, Spannungen in der Band auszuhalten, mich zusammenzuraufen, wenn es nicht so lief wie geplant.
Das braucht von uns Eltern immer wieder ein Loslassen und viel Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit der Kinder.
Über Fabian Grolimund
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