Frau Aklin, warum fehlt es heute vielen Kindern an Respekt? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Aklin, warum fehlt es heute vielen Kindern an Respekt?

Lesedauer: 4 Minuten

Katrin Aklin bringt als Schulleiterin der Zürcher Stiftung OPA Jugendliche wieder auf Kurs, die die Schule oder die Lehrstelle abgebrochen haben. Sie sagt, viele Eltern seien überfordert, Verbindlichkeiten in ihrer Erziehung zu entwickeln.

Frau Aklin, Sie arbeiten mit Jugend­lichen, die sich so querstellten, dass sie von der Schule geflogen sind. Was ist der Grund für ihren Widerstand? 

Er ist eine Folge der Tatsache, dass diese Jugendlichen im Lauf ihrer Entwicklung nicht die Kompetenzen entwickelten, auf die es im Leben ankommt: zum Beispiel eine Belohnung aufschieben oder die Konsequenzen eigenen Handelns abschätzen können. Das ist kein Problem einer bestimmten sozialen Schicht: Die meisten Erwachsenen erziehen ihre Kinder nach einem überholten Modell.

Nämlich?

Kindern Geborgenheit und Liebe zu geben, ein Nest, aus dem heraus sie Selbstwertgefühl, Vertrauen und ihre Fähigkeiten entwickeln können. Dies allein reicht aber heute nicht mehr. Wir leben in Zeiten rasanter Entwicklung, die Anforderungen an den Menschen werden immer höher. Ich weiss, dass es niemand gerne hört, aber: Die Schere geht immer weiter auf.
Katrin Aklin ist Schulleiterin bei der Zürcher Stiftung OPA, die männlichen Jugendlichen nach einem Schul- oder Lehrabbruch hilft, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ausserdem coacht die Mutter dreier erwachsener Kinder Familien, Eltern und Einzelpersonen.
Katrin Aklin ist Schulleiterin bei der Zürcher Stiftung OPA, die männlichen Jugendlichen nach einem Schul- oder Lehrabbruch hilft, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ausserdem coacht die Mutter dreier erwachsener Kinder Familien, Eltern und Einzelpersonen.

Welche Schere meinen Sie?

Es vertieft sich die Kluft zwischen denen, die aus den Möglichkeiten, welche die moderne Welt bietet, etwas machen können, und jenen, die von ihnen überrollt werden. 

Was heisst das?

Es gibt immer mehr Menschen, die den Fokus verlieren, untergehen in dieser Flut von Möglichkeiten, der wir täglich gegenüberstehen – weil sie nicht gelernt haben, Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen. Das müssen wir unseren Kindern beibringen. 

Welche Fähigkeiten braucht ein Mensch, um sich in dieser zunehmend komplexen Welt behaupten zu können? 

Machen Sie sich als Eltern von mir aus eine Liste davon – aber stellen Sie sich diese Frage. Die meisten Eltern sind überfordert, weil sie nicht darüber nachdenken, was ihre Erziehung bewirken soll.

Woran orientieren sie sich?

Sie orientieren sich an dem, was sie als Kind selbst erlebt haben, oder nehmen wahlweise das Gegenteil zum Vorbild, gucken ein bisschen nach links und rechts in der Hoffnung, dem eigenen Kind den besten Platz am Feuer zu sichern. Das Problem ist: Es fehlt ein Plan. Ich sage nicht, dass wir als Eltern auf alles vorbereitet sein können. Aber wir sollten wissen, was wir mit unserer Erziehung erreichen wollen. Stellen Sie sich vor, jemand würde ein Unternehmen ohne Plan führen … 

Sie vergleichen eine Familie mit einem Wirtschaftsunternehmen?

Ein Unternehmen zu führen bedeutet, stets einen Blick nach vorne zu werfen und sich zu fragen, was es braucht, damit dieses Unternehmen auch in Zukunft florieren und nicht untergehen wird. Warum stellen wir uns diese Frage nicht auch in Bezug auf unsere Kinder? Es ist schliesslich unsere Aufgabe, sie vorzubereiten auf das, was sie da draussen erwartet. Eltern sind heute als Führungspersonen gefragt.

Was zeichnet sie als solche aus?

Die Tatsache, dass sie auf dem Laufenden sind. Ich muss wissen, womit sich mein Kind beschäftigt, was WhatsApp, Instagram und so weiter ist. Die Behauptung, unsere Kinder seien uns als Digital Natives in diesen Angelegenheiten überlegen, halte ich für reine Bequemlichkeit. Was ich sagen will: Eine Führungsperson stellt nicht einfach Regeln auf, sondern geht voraus, macht es vor. Sonst ist sie nicht glaubwürdig. Das verlangt von Eltern aber Verbindlichkeit, und damit haben wir Erwachsenen unsere liebe Mühe.

Warum?

Weil es zu attraktiv ist, uns alle Optionen offenzuhalten. Ich coache auch Eltern und dort erlebe ich das oft. Da sind zum Beispiel die Eltern, die ihrer erst fünfjährigen Tochter Ballettstunden ermöglichen. Auf meine Frage, warum sie das tun, antworten sie, Sport sei doch gut. Aber was lernt das Kind fürs Leben, wenn die Eltern ihm jeden Mittwoch die Tasche packen und es zur Stunde chauffieren? Ich fragte, ob das Mädchen nicht mehr davon hätte, erst mit sieben ins Ballett zu gehen.

Das wäre Ihrer Meinung nach besser?

Ja, so könnte das Mädchen lernen, den Weg allein zurückzulegen. Dafür müsste sie aber Bus fahren und einmal umsteigen, entgegnete der Vater. Mein Vorschlag, es gemeinsam zu üben, kam nicht sonderlich gut an. Es braucht zu viel Zeit, und die kann der Vater anders nutzen. Doch was bedeutet diese Entscheidung für ihn als Führungsperson?

Sagen Sie es uns.

Sie entlarvt ihn. Wissen Sie, ich verstehe sein Dilemma, ich übte mit einem meiner Söhne selbst wochenlang Busfahren, und es war nicht so, dass ich nichts anderes zu tun gehabt hätte. Doch wenn wir Erwachsene uns nicht in die Pflicht nehmen, verbindliche Engagements einzugehen, wie können wir dann von Kindern Verbindlichkeit erwarten? Dann macht das Kind eben nur einen Kurs statt drei, dafür hat es davon mehr als reine Bespassung. Und um nochmals aufs gemeinsame Busfahrenüben zurückzukommen: Kinder sehen die Mühe, die wir mit solchen Aktionen auf uns nehmen, auch wenn sie dies nicht immer zu erkennen geben. So sichern wir Eltern uns ihre Anerkennung als Führungsperson.

Sie sprechen immer von Führung, nicht von Autorität?

Im Prinzip ist es ein- und dasselbe. Ich sage lieber Führung übernehmen, weil Autorität ausüben leider oft mit autoritärem Verhalten verwechselt wird, das auf Einschüchterung, blindes Rollendenken und Machtmissbrauch setzt: Weil ich erwachsen bin, sage ich, wo es langgeht, und das Kind hat zu parieren. So eine Willkürherrschaft führt über kurz oder lang zu heftigem Widerstand. Das gilt für sämtlichen Machtmissbrauch, der sich übrigens nicht nur in Gewalt oder Einschüchterung äussert.

Woran denken Sie?

Machtmissbrauch kann sehr subtil daherkommen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, diesmal von einer Mutter, deren 15-jähriger Sohn sie anruft, nachdem er die wöchentliche Nachhilfestunde zur Gymi-Vorbereitung hinter sich gebracht hat. Die Mutter lobt ihn sogleich überschwänglich dafür, dass er die Mühe auf sich genommen und seinen freien Nachmittag geopfert habe, und beteuert, man sei wirklich stolz auf ihn.

Was ist falsch daran?

Dieses übertriebene Lob ist vielleicht gut gemeint, signalisiert dem Kind aber unterschwellig: Mache ich nicht, was von mir verlangt wird, kippt es ins Gegenteil, dann ist es mit dem Stolz nicht mehr weit her. Das ist eine Form von Machtmissbrauch. Ich denke nicht, dass dies der Mutter bewusst war, vermutlich will sie einfach das Beste für ihr Kind, dass es wettbewerbsfähig ist. Das Problem ist, dass immer mehr Erwachsene irgendeine Form von Existenzangst plagt. Sie kann den Job betreffen, der sich ständig verändert, die sich zuspitzende Wohnsituation in Städten, die für viele tägliches Pendeln erfordert. Kurzum, viele Erwachsene werden von der Entwicklung schlichtweg überrollt. Und je überforderter wir sind, desto krasser sind in der Regel die Mittel, zu denen wir greifen – mit reiflicher Überlegung hat das meist nichts mehr zu tun.

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