«Ein Austauschjahr ist eine Riesenchance» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Ein Austauschjahr ist eine Riesenchance»

Lesedauer: 7 Minuten

Als Teenager ein Jahr im Ausland verbringen, den Alltag in einem fremden Land kennenlernen, internationale Freundschaften schliessen und in eine andere Kultur eintauchen: Das ist der Traum vieler Jugendlicher. Warum Eltern alles daran setzen sollten, ihn wahr werden zu lassen.

Es war die beste Entscheidung seines Lebens – davon ist Lars Reinfried überzeugt. Der gelernte Koch absolvierte nach seiner Lehre als Koch ein Auslandsjahr in England. «Dass ich jetzt noch eine KV-Ausbildung mache, hat bestimmt auch mit dieser Erfahrung zu tun», sagt der 19-Jährige.

Ein Jahr im Ausland zur Schule gehen – davon träumen viele Jugendliche. Doch: Wann ist der beste Zeitpunkt? Welches Land ist das richtige? Wie organisiert man ein Austauschjahr? Und was, wenn es in der Gastfamilie nicht stimmt? Eines vorweg: «Austauschjahr», dieser Begriff passt eigentlich nicht mehr ganz. Er stammt aus der Nachkriegszeit, als junge Menschen als die besten Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen betrachtet wurden und zwei Familien in unterschiedlichen Ländern für eine gewisse Zeit ihre Jugendlichen gegenseitig austauschten. «Heute tausche ich meine Erfahrung gegen die Erfahrung einer anderen, neuen Kultur», sagt Guido Frey, Geschäftsleiter der Dachorganisation zur Förderung von Jugendaustausch Intermundo.

Welche Programme stehen zur Auswahl?

Es gibt unzählige Möglichkeiten für Jugendliche, im Ausland Erfahrungen zu sammeln: Feriensprachkurse, Freiwilligeneinsätze oder Engagements in internationalen Organisationen. Das Austauschjahr ist für Jugendliche gedacht, die ihre obligatorische Schulzeit abgeschlossen haben und nun das Kurzzeitgymnasium oder die Kantonsschule besuchen, in der Lehre sind oder diese bereits abgeschlossen haben.

Am häufigsten gehen Gymnasiasten in ein Austauschjahr. «Der ideale Zeitpunkt ist in der 4. Klasse des Langzeitgymnasiums beziehungsweise in der 2. Klasse des Kurzzeitgymnasiums, wenn die Jugendlichen 16 oder 17 Jahre alt sind», sagt Kurt Büchler, Prorektor und Ressortverantwortlicher Schüleraustausch an der Alten Kantonsschule Aarau. Auch während der Berufslehre ist ein Auslandsjahr möglich, allerdings wird die Lehre unterbrochen und der Lernende muss nach seiner Rückkehr dort weiterfahren, wo er aufgehört hat. Möglich ist auch ein Zwischenjahr nach der Volksschule. «Hier rate ich, vorher bereits eine Lehrstelle zu haben», sagt Guido Frey. Sonst bestehe die Gefahr, dass der Jugendliche nach der Rückkehr keinen Ausbildungsplatz findet. Wichtig ist auch, das Austauschjahr mit dem künftigen Lehrmeister zu besprechen. «Viele Unternehmen begrüssen einen Auslandsaufenthalt, da der Lernende mit einem Rucksack voller Erfahrungen und neuen Sprachkenntnissen zurückkommt.»

Lars Reinfried hat nach seiner Kochlehre ein Jahr in England gelebt.
Lars Reinfried hat nach seiner Kochlehre ein Jahr in England gelebt.

Was sind die Voraussetzungen für ein Austauschjahr?

Wer unsicher sei, ob er es ein Jahr weg von zu Hause aushalte, solle zuerst einmal einen kürzeren Auslandsaufenthalt in den Ferien aus- probieren, rät Guido Frey. «Man muss Lust haben, sich auf eine andere Sprache und andere Weltanschauungen einzulassen, gerne mit anderen Menschen diskutieren und offen sein für Neues.» Die Schülerinnen und Schüler müssen eine grosse Portion Selbständigkeit mitbringen. Auch psychische Belastbarkeit sei wichtig – schliesslich gehe es darum, sich im Ausland durchzusetzen.

Äussert ein Jugendlicher in der Kantonsschule den Wunsch, einen Auslandaufenthalt zu machen, kann er sich an die verantwortliche Lehrperson zum Thema Schüleraustausch an seiner Schule wenden. An Kurt Büchlers Kantonsschule in Aarau findet beispielsweise bereits im August, also im ersten Jahr an der «Kanti», eine erste Infoveranstaltung statt. Dort stellen sich verschiedene Anbieter vor. Der Prorektor rät, mit einer nichtkommerziellen Organisation zusammenzuarbeiten. «Kommerzielle Anbieter bezahlen etwa ihre Gastfamilien. Deshalb steckt da neben dem kulturellen Austausch auch ein wirtschaftliches Interesse dahinter.» Intermundo arbeitet ausschliesslich mit nichtkommerziellen Anbietern zusammen.

Oft ist die bestandene Promotion Vor­aussetzung, um in ein Austauschjahr gehen zu können.

Um in das Abenteuer Auslandsaufenthalt starten zu können, muss die Schule den Lernenden für ein Jahr beurlauben. Die Voraussetzungen dafür sind von Schule zu Schule verschieden. Oft ist die bestandene Promotion Vor­aussetzung. Und um das Schuljahr nach der Rückkehr nicht wieder­ holen zu müssen, sondern in die gleiche Klasse zurückkehren zu können, ist meist ein Schnitt von 4,75 erforderlich.

«Die Mehrheit überspringt das Jahr, die Lernenden müssen aber den verpassten Stoff selbständig auf­arbeiten. Manche tun dies bereits während des Auslandsaufenthalts», sagt Kurt Büchler. «Die High Schools in den USA haben weit geringere schulische Anforderun­gen, weshalb dafür oft Zeit bleibt.» Manche Kantonsschulen bieten zudem in den Herbstferien Stütz­ und Brückenkurse für die heimge­kehrten Austauschschülerinnen und ­-schüler an.

Hat man eine passende Organi­sation ausgewählt, findet eine Art Bewerbungsverfahren statt. «Wichtig ist, dass der Lernende ein möglichst solides und präzises Motiva­tionsschreiben verfasst, das gut dokumentiert ist. Zeugnisse und Referenz des Klassenlehrers gehören auch dazu», sagt Kurt Büchler. Schliesslich schaut die Austausch­organisation zusammen mit dem Jugendlichen, welche Länder infrage kommen, und sucht nach einer pas­senden Gastfamilie und Schule. Es findet ein Vorbereitungswochen­ende statt, in dem die Austauschwil­ligen nützliche Informationen erhal­ten und auf ihr Jahr im Ausland und in der fremden Kultur vorbereitet werden.

Wohin soll es ins Austauschjahr gehen?

Guido Frey rät, das Gastland nicht im Voraus festzulegen. «Ich würde das komplett offenlassen und mich nicht von festen Vorstellungen leiten lassen.» Sogar die Sprache des Lan­des spiele nicht die wichtigste Rolle. Wenn Eltern bei der Vorbereitung merken, dass ihr Kind überfordert ist, können sie helfend zur Seite ste­hen. Aber zu viel Einflussnahme sei nicht empfehlenswert: «Ich erinnere mich an einen Vater, der selbst als Kind in Ohio war und nun der Meinung war, sein Sohn müsse unbe­dingt auch dorthin. Ich rate, die Kinder zusammen mit der Organi­sation selber ihre Wahl treffen zu lassen. Es geht nicht darum, die Wünsche der Eltern zu erfüllen.»

Die beliebtesten Destinationen sind englischsprachige Länder. Auch exo­tische Ziele wie China oder ein süd­amerikanisches Land können sehr spannend sein. Häufig sind Aufent­halte auf dem Land erlebnisreicher als etwa in einer Grossstadt. «Die Jugendlichen sind auf dem Land Exoten, jeder will sich mit ihnen tref­fen. Zudem tauchen sie in ländlichen Gegenden viel tiefer in die lokale Kultur ein», sagt Guido Frey. Günstig sei ein Austauschjahr nicht: Je nach Land kostet gemäss Frey ein einjähriger Aufenthalt zwischen 15 000 bis 24 000 Franken. Die Angaben vari­ieren je nach Anbieter.

«Am Anfang ist alles faszinie­rend, nach zwei bis drei Monaten folgt meist eine Phase der Langeweile.»

Guido Frey, Geschäftsleiter der Dachorganisation zur Förderung von Jugendaustausch Intermundo.

Wenn es endlich losgeht, sind die Austauschschüler meist ziemlich nervös. Die erste Zeit ist hart, alles ist neu, fremd und es ist niemand da, den man kennt. «Alles ist faszinie­rend, jeder Tag ist anders, aufre­gend», beschreibt es Guido Frey. Nach zwei bis drei Monaten folgt meist eine Phase der Lange­weile, die Jugendlichen vermissen die Kolleginnen und Kollegen zu Hause, die Familie.

Manchmal rutschen die Austauschschüler auch in eine Krise. Dann sei eine gute Begleitung entscheidend. «Die Organisation in der Schweiz arbeitet mit einer Austauschorganisation vor Ort zusammen», so Guido Frey, «und ein Mitarbeiter vor Ort kümmert sich um den Teenager.» Der Wendepunkt kommt oft nach einem halben Jahr, wie bei Anne. Dann sprechen die Teenager die Sprache gut, haben erste Freundschaften geschlossen und kennen sich im neuen Umfeld aus.

Elterliche Zurückhaltung gefragt

Für die Eltern ist ein Austauschjahr ihres Kindes keine einfache Sache – nicht nur in finanzieller Hinsicht. Sie müssen ihre Tochter oder ihren Sohn loslassen, würden aber oft, besonders am Anfang, am liebsten mitreisen oder zumindest jeden Tag Skype-Gespräche führen. Allzu viel Kontakt ist aber nicht erwünscht. «Es ist wichtig, dass die Eltern nicht täglich Whatsapp-Nachrichten schreiben», sagt Guido Frey. Der oder die Jugendliche muss sich am fremden Ort einleben können und nicht ständig an die Heimat erinnert werden. Der Geschäftsführer von Intermundo rät, den Familien-Chat zu ignorieren und die Kontaktaufnahme fix zu regeln, zum Beispiel einmal wöchentlich ein Telefon, eine Mail oder eine Nachricht: «Ein ständiger Wechsel zwischen hier und zu Hause ist nicht ratsam. Sonst nimmt man dem Jugendlichen die Chance, sich auf das Neue einzulassen.»

Dies bestätigt Lars Reinfried: «Während meiner Zeit in England hatte ich wenig Kontakt mit der Schweiz. Meine Eltern wollten dauernd wissen, wie es mir geht. Aber mir war es wichtig, im neuen Umfeld Erfahrungen zu sammeln und nicht dauernd an zu Hause erinnert zu werden. Deshalb ging dann auch die Beziehung zu meiner damaligen Freundin bald zu Ende. Ich hatte keine Zeit für Heimweh und solche Sachen.» Eltern von Austauschschülern müssen in der Regel auch ein Dokument unterschreiben, in dem sie gewisse Rechte und einen Teil ihrer Verantwortung an die Gasteltern abgeben, etwa, wenn es um medizinische Notfälle geht.

Natürlich treten da und dort auch alterstypische Probleme auf: Alkoholexzesse, exzessiver Ausgang, disziplinarische Probleme, Schwierigkeiten mit der Gastfamilie oder der Schule. Grundsätzlich gilt: Die Austauschschüler müssen sich an gewisse Regeln halten. Jeden Abend bis Mitternacht in den Ausgang zu gehen, ist tabu. Alleine im Land herumreisen ist ebenfalls untersagt. Je nachdem kann ein Schüler auch nach Hause geschickt werden. Und wenn es mit der Familie im Ausland nicht passt, sorgen Personen vor Ort für eine neue Lösung. «Sie helfen, eine andere Familie zu finden, wenn es nicht mehr geht», sagt Guido Frey. Nur ganz selten kommt es zu einem Abbruch des Austauschjahres, etwa, weil das Heimweh zu gross ist. «Das kann vorkommen, ist aber häufig mit einer grossen Enttäuschung verbunden.» Ganz ausschliessen könne man das aber nie.

Irritationen nach der Rückkehr in die Heimat?

Nicht zu unterschätzen ist die Rückkehr nach Hause. Sie ist oft mit einem Kulturschock verbunden. «Die Jugendlichen haben sich stark verändert, zu Hause ist aber alles gleich geblieben», sagt Kurt Büchler. «Das ist für sie irritierend.» Manche gäben sich auch etwas überheblich, sähen auf ihre Gleichaltrigen, die zu Hause geblieben sind, herab. Nach ein paar Monaten pendle sich das wieder ein. Hilfreich seien Treffen mit der Organisation und anderen ehemaligen Austauschschülern. Ein Jahr im Ausland ist ein Abenteuer und wird von den Jugendlichen fast durchwegs als persönlicher Erfolg gewertet. «Ein Austauschjahr hat fast nur positive Aspekte», sagt der Zürcher Psychiater Mario Olgiati, dessen Tochter auch ein Austauschjahr absolviert hat. Am Anfang müssten sich die Jugendlichen durchkämpfen und das Alleinsein aushalten. Aber dann komme es gut: «Alle, die ich kenne, sind gut heimgekehrt und haben enorm profitiert.»

Gerade in der Zeit der Pubertät kann ein Auslandsjahr eine heilsame Erfahrung sein.

Die Jugendlichen befinden sich mit 17 in einer schwierigen Entwicklungsphase. Da sei eine Auslanderfahrung ein Geschenk des Himmels: «Die Schule ödet sie oftmals an und sie merken langsam, was es heisst, erwachsen zu werden», sagt Olgiati. «Eine Auslandserfahrung belebt die Teenager, reisst sie aus ihrem Trott. Die Kinder müssen sich Unbekanntem stellen, sich öffnen, es mit sich selbst aushalten. Und sie lernen sich neu kennen. Das alles sind Erfahrungen fürs Leben.» 
Wichtige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Austauschjahr sind: Selbständigkeit, Kontaktfreudigkeit und psychische Belastbarkeit.
Wichtige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Austauschjahr sind: Selbständigkeit, Kontaktfreudigkeit und psychische Belastbarkeit.

Die fünf wichtigsten Punkte:

  1. Sich rund ein Jahr vor Abreise informieren: über die Schule und über Intermundo, Dachorganisation zur Förderung von Jugendaustausch
  2. Kosten abklären (Stipendien)
  3. Bestes Alter: 16 bis 17 Jahre
  4. Wer kann gehen? Kantonsschüler, Lehrlinge, Jugendliche im Zwischenjahr nach der Schule
  5. Ein Austauschjahr ist nicht nur etwas für die stärksten Schülerinnen und Schüler

Zum Autor:

Robert Bossart ist freier Journalist in Luzern. Seine Tochter plant dieses Jahr einen Sprachaufenthalt in England.
Robert Bossart
ist freier Journalist in Luzern. Seine Tochter plant dieses Jahr einen Sprachaufenthalt in England.


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