Mein Kind ist ein Perfektionist

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
In der Prüfung eine Sechs, im Wettkampf der Erste. Manche Kinder wollen alles besonders gut machen, perfekt sein. Wenn sie dies aus dem Glauben heraus tun, nur so geliebt zu werden, sollten Eltern handeln.
Ihre Mutter hat das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen, wenn Natalie sich selbst abwertet, sich als dumm bezeichnet, weint, weil sie «nichts kann», sich als «doofe Nuss» beschimpft. Bei jedem «aber das ist doch gut!» und «andere wären froh, wenn sie so gute Noten hätten» wird Natalie wütender. Gut ist ihr nicht gut genug. Es muss perfekt sein.
Natalie sucht nach Lob und Anerkennung, kann es jedoch kaum annehmen. Sie sucht immer nach dem «Aber» dahinter. Sie hat ein grosses Ohr für kleinste kritische Kommentare und fühlt sich auch bei gut gemeinten Verbesserungsvorschlägen entwertet und abgelehnt.
Natalie ist eine Perfektionistin – und sie und ihr Umfeld kämpfen damit.
Nicht jede Form von Perfektionismus ist problematisch
Selbstorientierte Perfektionisten machen ihren Wert fast ausschliesslich von der Bewertung anderer Menschen abhängig.
Die «gesunde» Form wird als selbstorientierter Perfektionismus beschrieben. Diese Menschen stecken sich hohe eigene Ziele und arbeiten mit Engagement und Begeisterung daran, sich stetig zu verbessern. Sie können mit Misserfolgen umgehen und aus Fehlern lernen.
Sozial orientierte Perfektionisten hingegen leiden unter ihrem Drang nach Vollkommenheit. Sie setzen sich nicht selbst Ziele – sie fühlen sich vielmehr von (vermeintlich) hohen Erwartungen anderer unter Druck gesetzt. Sie glauben, perfekt sein zu müssen, um anderen zu genügen und liebenswert zu sein. Sie machen ihren Wert als Mensch fast ausschliesslich von der Bewertung anderer abhängig. Teilweise sind sie so blockiert von Ängsten und Sorgen, dass sie kaum mehr arbeiten können. Ihre Gedanken kreisen um einen möglichen Gesichtsverlust und die Angst, dass andere enttäuscht werden könnten, schlecht über sie denken oder sich von ihnen abwenden, wenn sie keine Bestleistung erbringen.
Kinder wie Natalie identifizieren sich so sehr mit ihrer Leistung, dass sich ein Misserfolg anfühlt, als würde ihnen der Boden unter den Füssen weggezogen.
Der Drang nach Perfektion macht Eltern und Lehrer hilflos
Bei Eltern und Lehrpersonen stellt sich jedoch bald das Gefühl ein, dass all das Lob und all die Ermutigung nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Es fühlt sich an, als würde man ein Fass ohne Boden füllen. Die Anerkennung versickert nach einem kurzen Moment der Freude oder Erleichterung und scheint langfristig nur dazu zu führen, dass das Kind immer mehr davon braucht, um sich für kurze Zeit erleichtert zu fühlen. Die Selbstzweifel sind sofort wieder da.
Der Versuch, das Selbstvertrauen perfektionistischer Kinder zu stärken, verstärkt oft das Problem. Denn: Jede Anerkennung für gute Leistungen und jedes Gespräch über Prüfungen, Noten, Stärken und Erfolge vermittelt ihnen indirekt und unbewusst: Es geht im Leben um Leistung und Erfolg. Jede Versicherung, dass das Kind «gut» sei, es etwas «toll gemacht» hat, signalisiert dem Kind, dass sein Wert als Mensch von seiner Leistung abhängt.
Wörter wie schlecht und richtig spielen eine gewichtige Rolle
Menschen wie Natalie legen immenses Gewicht auf das Ergebnis und identifizieren sich kaum mit dem Thema oder dem Arbeitsprozess. Es geht ihnen darum, eine schöne Zeichnung zu machen, eine gute Note zu schreiben, den Wettkampf zu gewinnen. Die Freude am Zeichnen, das Interesse am Stoff, das Zusammensein mit anderen beim Training zählen kaum.
Bei einem Misserfolg könnten Sie das Kind fragen, was ihm nun guttun würde, anstatt über die Prüfung zu sprechen.
Das Kind wird Widerstand leisten, um Anerkennung bitten
Zum Autor:
Fabian Grolimund schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi. Interesse an weiteren spannenden Themen rund um Eltern, Kinder und Jugendliche?
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