Das rechnet sich (nicht)! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Das rechnet sich (nicht)!

Lesedauer: 2 Minuten

Unser Kolumnist über die Tatsache, dass manchmal miese Tricks und üble Finten helfen – zumindest, wenn es um Mathematik geht. 

Letzte Nacht hatte ich einen Albtraum. Es ist ein wiederkehrendes Thema, seit 20 Jahren schon: Ich sitze in einem Klassenzimmer, die Aufgaben im Fach Mathematik werden verteilt – und ich kann keine einzige lösen. Träume, so heisst es, sind Botschaften aus dem Unter-bewusstsein. Aber was bedeuten sie? Es gibt verschiedene Theorien, zwei der populärsten gehen so:

a) In Träumen verarbeiten wir unsere Erlebnisse. 
b) In Träumen verarbeiten wir unsere unbewussten Ängste.
 
In meinem Fall haben wir a + b. Wenn mein Kopf schläft, formieren sich in den Untiefen meines Unterbewusstseins meine grössten Ängste mit meinen schlimmsten Erlebnissen zu einem Drama. Denn mein Standardtraum beruht auf wahren Begebenheiten. An kaum etwas in meinem Leben erinnere ich mich besser als an meine Maturprüfung in Mathematik – eine fünfstündige Klausur irgendwann im Frühjahr 1995. Unser Lehrer war ein kaltherziger Mann mit der Ausstrahlung eines Lageraufsehers. Der Prüfungsbogen wurde verteilt, fünf Aufgaben standen drauf. Einmal Kurvenberechnungen, etwas, das ich eigentlich konnte, bloss diesmal nicht; dann Vektor – das war eh hoffnungslos; ferner irgendwas mit Integralrechnungen und Gleichungen, die harmlos wirkten, ich aber selbst mit der vollständigen Lösung vor Augen nicht verstanden hätte; und dann die Sternchenaufgabe, eine Zusatzsache für Hochbegabte aus dem Themenkreis imaginäre Zahlen. 

«Ergreifen Sie am besten einen Beruf, bei dem Sie nicht rechnen müssen.»

Ich drehte das Blatt um in der Hoffnung, auf der Rückseite die einfacheren Aufgaben zu finden. Nichts. Es war nicht so, dass ich nicht gelernt hatte, es war mehr so, dass ich nichts konnte. Die folgenden Stunden hatte ich ausgiebig Zeit, über das Leben nachzudenken – und über das Sterben. Ich wusste, dass ich die Matur wiederholen müsste und damit auch die Matheprüfung. Wie der griechische Schalk Sisyphos, der geglaubt hatte, den Tod überlisten zu können, und dafür mit ewigem Leben bestraft wurde, sah ich mich den Rest meines Lebens an unlösbaren Matheaufgaben verzweifeln. Die allegorische Tiefe der Situation war erdrückend.  

Was dann folgte, ist weder schön noch ehrenhaft, aber wahr: Vor mir sass Nina T., die bereits die Sternchenaufgabe gelöst hatte. Wenn ich mich sehr weit nach vorne beugte, konnte ich einen Blick darauf werfen. Ich begann, ihre Lösung abzuschreiben. Plötzlich bemerkte sie mich und schob ein Papier über ihre Lösung. Ich weiss nicht, was aus Nina T. wurde, ich habe sie nach der Matur nie wieder gesehen,bin mir aber ziemlich sicher, dass die Götter es nicht so gut mit ihr gemeint haben. Drei Wochen später erhielt ich kein Verfahren wegen Betrugs, sondern den Hinweis, dass ich dank der halbfertigen Sternchenaufgabe die erforderliche Mindestpunktzahl erzielt hatte. Bei der Maturfeier wollte ich den Lageraufseher vor Glück küssen. Er verabschiedete mich mit den Worten: Ergreifen Sie am besten einen Beruf, bei dem Sie nicht rechnen müssen. Hierzu habe ich zwei Anmerkungen. Erstens: Manchmal helfen dir miese Tricks und üble Finten. Zweitens: Die Aufgaben, denen du dich nicht stellst, werden dir bis in deine Träume folgen.

Zum Autor:


Mikael Krogerus ist Autor und Journalist. Der Finne ist Vater einer Tochter und eines Sohnes, lebt in Biel und schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi und andere Schweizer Medien.