Wenn Genuss nicht mehr auf dem Speiseplan steht - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn Genuss nicht mehr auf dem Speiseplan steht

Lesedauer: 3 Minuten

Sich bewusst zu ernähren, ist gesund – aber nur bis zu einem gewissen Mass. Wird die Ernährung zur Fixierung, spricht man von einer Orthorexie.

In Zusammenarbeit mit Betty Bossi

Sara steht am Buffet in der Mensa. Das Tagesmenü – panierter Fisch mit Salzkartoffeln und Spinat – kommt nicht in Frage für sie. Die Panade am Fisch und die von Butter glänzenden Kartoffeln sind ihr zu fett. Bleibt nur noch das Salatbuffet. Nach langem Hin und Her entscheidet sich der Teenager schlussendlich für viel grünen Salat mit etwas Randen, Sprossen, Kernen und wenig Öl und Essig. Dazu ein Vollkornbrötli und ein Wasser.
 

Sara leidet an Orthorexie, einem Störungsbild, bei dem sich die Betroffenen praktisch rund um die Uhr mit der gesunden Ernährung befassen und wenn immer möglich auf ungesunde Lebensmittel verzichten. Die eigenen Regeln werden dabei meist immer strenger. Jegliche Produkte, die irgendwann einmal mit «ungesund» in Verbindung gebracht worden sind, werden nicht mehr konsumiert. Da fast alle Lebensmittel in bestimmten Mengen oder Variationen als ungesund wahrgenommen werden können, wird die Auswahl an in Frage kommenden Nahrungsmitteln immer kleiner. Doch nicht nur die einseitige Ernährung wird zum Problem, sondern auch die ununterbrochene Beschäftigung mit dem Essen. Betroffene können soziale Kontakte weniger pflegen, Restaurantbesuche werden abgesagt oder im Vorfeld minutiös geplant, ohne jegliche Flexibilität.
 
Die Orthorexie gehört offiziell nicht zu den Essstörungen, sie ist auch sehr unterschiedlich stark ausgeprägt und es ist schwierig, zu sagen, ab wann ein Verhalten als nicht mehr normal gilt. In einer Schweizer Studie fanden Wissenschaftler heraus, dass sich fast ein Drittel der Befragten übermässig mit gesundem Essen beschäftigt. Die Schweizer Bevölkerung ist stark sensibilisiert für dieses Thema. Die Präsenz von vermeintlich gesunden Nahrungsmitteln in den Medien, beim Einkaufen oder in Restaurants ist sehr hoch. Das Problem: Eine Orthorexie kann eine Essstörung begünstigen. So führen ständiger Verzicht und Verbote unter Umständen zu Heisshunger-Attacken, in der Fachsprache als Bing-Eating-Störung bezeichnet, oder zu einer Bulimie. 

Die Balance zwischen bewusstem und intuitivem Essen

Immer wieder wird ein Nahrungsmittel von den einen Experten als gesund bezeichnet, während die anderen genau das Gegenteil behaupten. Ein solcher Wirrwarr an Empfehlungen beziehungsweise Warnungen kann verunsichern. 
Der Wunsch, sich von frischen, saisonalen und wenn möglich biologischen Produkten zu ernähren, ist absolut nachvollziehbar. Hierbei die Balance zu finden zwischen gesunder, ausgewogener Ernährung und lustvollem, intuitivem Essen, kann durchaus herausfordernd sein.

Wichtig ist dabei, zu unterscheiden, warum gewisse Nahrungsmittel bevorzugt und andere abgelehnt werden. Steht hier immer allein der gesundheitliche Aspekt im Vordergrund, kann es sein, dass die Ernährung einseitig wird und bestimmte Nahrungsmittel mit der Zeit verboten werden. So entscheiden sich manche Menschen beispielsweise aus vermeintlich gesundheitlichen Gründen dafür, auf glutenhaltige Lebensmittel zu verzichten. Menschen, die an einer diagnostizierten Allergie oder Unverträglichkeit leiden, können solche Esstrends nerven, da für sie ein Verzicht auf gewisse Nahrungsmittel ein Muss ist, während ihn sich andere freiwillig auferlegen.

Wie in so vielem sind auch Sie als Eltern gefragt. Ist Ihr Umgang mit dem Essen natürlich und entspannt, wirkt sich dieses Vorbild positiv auf Ihre Kinder aus. Ein Tipp: Versuchen Sie, bestimmte Nahrungsmittel nicht nur als gesund oder ungesund zu beschreiben, sondern mit anderen Adjektiven wie beispielsweise: Die Tomaten sind saisonal und dadurch reich an Vitaminen, der Broccoli schmeckt knackig und frisch, die Schokolade ist süss und für spezielle Genussmomente gedacht. So werden die Nahrungsmittel weniger bewertet und mehr beschrieben.

Eine wichtige Rolle kann auch das gemeinsame Kochen spielen. An welche Gerichte erinnern Sie sich noch aus Ihrer Kindheit? Bei mir sind es die Pizza-Sonntage mit der ganzen Familie. Jeder durfte seine eigene Pizza belegen – das war das Highlight der Woche. Dazu gab es Apfelschorle, so fein! Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kinder noch lange von Ihren selbstgemachten Spätzli schwärmen oder beim Streusel­kuchen von Papa nur so dahinschmelzen. So werden Mahlzeiten bewusst erlebt und Essen wird mit positiven Gefühlen in Verbindung gebracht.


Wie gesund ist meine Einstellung zum Essen?

Der US-Arzt Steven Bratmann hat die folgenden ­Aussagen formuliert, um eine mögliche Orthorexie erkennen zu können:

1. Ich verbringe so viel Zeit meines Lebens damit, über gesundes Essen nach­zudenken, es auszuwählen und zuzubereiten, dass es andere Dimensionen meines Lebens wie Liebe, Kreativität, Familie, Freundschaft, Arbeit und Schule beeinträchtigt.

2. Wenn ich irgendeine Nahrung zu mir nehme, die ich für ungesund halte, fühle ich mich ängstlich, schuldig und unrein. Bereits die Nähe zu solchen Nahrungsmitteln stört mich, und ich verurteile andere, die diese essen.

3. Mein persönliches Gefühl des Friedens, des Glücks, der Freude, der Sicherheit und des Selbstwerts hängt übermässig von der Reinheit und Richtigkeit dessen ab, was ich esse.

4. Manchmal würde ich gerne meine selbst auferlegten Regeln für «gutes Essen» für einen besonderen Anlass wie eine Hochzeit oder ein Essen mit Familie oder Freunden lockern, aber ich finde, dass ich das nicht kann. 

5. Im Laufe der Zeit habe ich immer mehr Lebensmittel gestrichen und meine Liste der Ernährungsregeln erweitert, um den gesundheitlichen Nutzen zu erhalten oder zu erhöhen; manchmal greife ich eine bestehende Lebens­mitteltheorie und ergänze sie mit meinen eigenen Überzeugungen.

6. Die Befolgung meiner Theorie der gesunden Ernährung hat dazu geführt, dass ich mehr Gewicht verloren habe, als nach Ansicht der meisten ­Menschen, gut für mich ist, oder hat andere Anzeichen von Unterernährung wie Haarausfall, Menstruationsverlust oder Hautprobleme verursacht. 

Treffen eine oder mehrere dieser ­Aussagen auf Sie zu, kann dies ein Anzeichen für eine Orthorexie sein. Es ist aber stets im Ermessen jedes ­Einzelnen, ab wann ein Verhalten als ­Einschränkung im Alltag wahrgenommen wird und ob eine Fachperson aufgesucht wird.


Zur Autorin:

Vera Kessens ist BSc Ernährungsberaterin SVDE bei Betty Bossi AG.
Vera Kessens ist BSc Ernährungsberaterin SVDE bei Betty Bossi AG.