Herr Bürgin, wie deutet man heute einen Traum?

Bild: Fabian Unternährer / 13 Photo
Sigmund Freud sagte einst, der Traum sei der Königsweg zum Unbewussten. Auch der Basler Kinder- und Jugendpsychiater Dieter Bürgin nutzt diesen Weg ins Unterbewusstesein seiner Patienten. Gemeinsam mit ihnen sucht er nach der Bedeutung ihrer Träume. Wie macht er das?
Nach einem Traum fragt er nicht. Stattdessen versucht er das Vertrauen des Kindes zu gewinnen und ihm zu zeigen, dass es nicht alleine ist mit seiner Innenwelt. Bis das Kind schliesslich einen Traum erzählt, kann viel Zeit vergehen.
Dieter Bürgin ist emeritierter Professor der Universität Basel und arbeitet heute in eigener Praxis. Er trägt seine Taschenuhr an einem Kettchen. Der Blick darauf erübrigt sich. Aus einem Nebenzimmer erklingt dumpf der Klang einer Pendeluhr. Soeben schlägt sie die volle Stunde. An einer Wand steht die Couch, dahinter ein dunkler Sessel. In einem davon sitzt der Analytiker.
Eine Praxis wie jede andere?

«Der Traum ist ein Geschenk!»
Dieter Bürgin hört zu, beobachtet, denkt sich in die Fantasien des Kindes hinein: Welche Elemente hebt es hervor? Welche Einfälle hat es dazu? Welche Gefühle und welches Verhalten begleiten die Erzählung und die Beziehung zwischen dem Kind und dem Psychoanalytiker? Stück für Stück erarbeiten sich die beiden für einzelne Teile des Traumes eine Bedeutung, die für das Kind in diesem Moment relevant ist.
Einen Tiger als Spielkameraden?
Naheliegend wäre, den Tiger zu verbannen, um das Symptom rasch wegzukriegen. Dieter Bürgin tut das Gegenteil: Er gibt dem Tiger Raum, damit er in die analytische Beziehung gelangen und bearbeitet werden kann. «Ich weiss ja nicht, wofür der Tiger steht: Ist er der imaginäre Spielkollege des Kindes? Ein Teil des Kindes? Würde ich mit der Entfernung des Tigers auch einen Teil des Kindes entfernen?» Darum bleibt das Raubtier unter dem Bett – unter Umständen für eine längere Zeit.
Seit Freuds Begründung der modernen Traumdeutung vor gut 120 Jahren wurden schnellere Verfahren entwickelt, um beängstigende Träume zu beseitigen. Warum also sucht Dieter Bürgin nach der Bedeutung eines Traumes? Was hofft er zu finden? Um das zu erklären, holt er ein wenig aus.
Wenn das logische Denken aussetzt …
Die Traumbildung ist ein kreativer Akt, oft nicht sprachlich.
Das Wenigste, was das Gehirn Tag wie Nacht produziert, wird uns bewusst. Nicht immer erinnern wir uns an Träume. Wenn doch, treten sie oft in verkleideter Form ins Bewusstsein. An dieser Stelle setzt Dieter Bürgin an. Dabei unterscheidet er den geträumten, den erinnerten und den erzählten Traum.
Wie sieht die heutige Traumdeutung aus?
Es gilt also viele Faktoren zu berücksichtigen bei der Deutung eines Traumes. Der elfjährige Luis träumte, sein Vater sei gestorben. Was heisst das nun? In der Antike wäre dieser Traum vermutlich als Prophezeiung ausgelegt worden. Sigmund Freud hätte vielleicht einen Wunsch darin erkannt. Die heutige professionelle Traumdeutung distanziert sich von festen Bedeutungszuschreibungen. Dieter Bürgin sagt schlicht: «Ich weiss auch nicht, was dieser Traum bedeutet.»
Käme Luis zu ihm, würde er ihn erst einmal fragen: «Was möchtest du, was ich an dir kennenlerne?»
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