«Verwöhnung ist eine Art Sucht»
Der Psychologe Jürg Frick beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit Übervorsicht in der Erziehung – lange bevor sich der Begriff Helikopter-Eltern etabliert hat. Er sagt: Verwöhnte Kinder werden unselbständig.
Herr Frick, wie gefällt Ihnen der Begriff Helikopter-Eltern?
Eigentlich gar nicht schlecht. Er beschreibt treffend, wie Eltern über ihren Kindern kreisen, um sie zu überwachen. Allerdings wird der Begriff heute vor allem verwendet, um Eltern anzuklagen. Das finde ich falsch. Bei Eltern sollte man keine Schuldgefühle erzeugen, denn die allermeisten wollen es ja gut machen. Ich spreche daher lieber von Verwöhnung. Dieser Begriff geht meiner Meinung nach tiefer und weiter.
Inwiefern?
Bei der Verwöhnung geht es um eine Grundhaltung, die von Übervorsichtigkeit oder Überängstlichkeit geprägt ist: dem Kind nicht viel zuzutrauen und ihm darum viele Dinge abzunehmen, die es selbst erledigen könnte.
Sie bezeichnen Verwöhnung in Ihrem Buch als Droge. Warum?
Werden Kinder verwöhnt, fordern sie dieses Verhalten auch in Zukunft ein. Ein Kind einmal in die Schule zu fahren, ist kein Problem. Aber am nächsten Tag wird das Kind fragen: «Mami, ich bin spät dran, fährst du mich wieder?» Gibt man dann nach, gewöhnt sich das Kind daran. Diese Gewöhnung ist eine Art Sucht.
Was sind die Folgen von Verwöhnung?
Sie führt dazu, dass Kinder entmutigt und für das Leben untauglich gemacht werden. Ein verwöhntes Kind glaubt, dass es nichts kann, dass es ohne Eltern verloren ist. Solche Kinder sind es ausserdem gewöhnt, dass sich die Welt um sie dreht. Das macht es für sie schwierig, sich anzupassen. In der Schule beispielsweise können sie nicht mit schlechten Noten umgehen oder damit, dass man im Turnen etwas anderes spielt, als sie möchten.
Gibt es Spätfolgen bis ins Erwachsenenalter?
In meinem Buch mache ich einen Exkurs zu Topmanagern. Für den ehemaligen Chef von Novartis, Daniel Vasella, war es völlig normal, dass er rund 71 Millionen Franken Abgangsentschädigung – verteilt auf sechs Jahre – erhalten sollte. Als die Öffentlichkeit dies nicht goutierte, verliess er für einige Jahre beleidigt das Land. Diese Anspruchshaltung gleicht jener von Verwöhnung. Ob Vasella ein verwöhntes Kind war, weiss ich nicht. Aber Verwöhnung kann eine starke Deformierung der psychischen Struktur zur Folge haben, die ein Leben lang prägt.
Sie schreiben, dass Verwöhnung eine subtile Form der Kindsmisshandlung sei. Gehen Sie damit nicht etwas weit?
Das werde ich oft gefragt. Per Definition ist Kindsmisshandlung jede gewalttätige oder unnötig einengende Handlung am Kind oder deren Vernachlässigung. Darunter fallen nicht nur körperliche, sondern auch psychische Verletzungen. Und solche können durch massive Verwöhnung entstehen. Auch Entwicklungsbeeinträchtigungen sind mögliche Folgen.
Kinder brauchen Bindung, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft, Fürsorge. Eltern sollten Kinder nicht verwöhnen, sondern ihnen etwas zumuten.
Was ist denn so schlecht an einer behutsamen, fürsorglichen Erziehung?
Gar nichts. Die Frage ist eine andere, nämlich: Was braucht ein Kind? Kinder brauchen Bindung, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft, Fürsorge. Um sich entwickeln zu können, sollten einem Kind jedoch auch andere Dinge mit auf den Weg gegeben werden: Es muss lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich etwas zuzutrauen.
Wie erzieht man, ohne zu verwöhnen?
Ich möchte nicht zurück zu einer autoritären Erziehung, sondern hin zu einer autoritativen. Wichtig dabei ist, dass wir Kindern etwas zumuten sollten. Wenn ich einem Kind zu verstehen gebe, dass es stark ist und etwas kann, ihm etwas zutraue, dann gibt ihm das Selbstbewusstsein. Psychologen sprechen auch von Selbstwirksamkeit.
Zu spät ist es nie, eine Verwöhnung zu korrigieren, es wird nur schwieriger.
Wie macht man das?
Ein Beispiel: Ein Kind beklagt sich, dass es in der Schule von einem anderen Schüler geplagt wird. Statt gleich hinzugehen und diesen Schüler zur Rechenschaft zu ziehen, sollten Eltern abklären, ob das Kind das Problem selber lösen kann. Manchmal reicht es zu sagen: «Rede mal mit ihm.» Vielleicht braucht es aber auch etwas mehr Hilfe. Wenn das Kind das Problem selber gelöst hat, kann man sagen: «Das hast du toll gemacht.» So etwas gibt Selbstbewusstsein.
Wann ist es zu spät, zu viel Verwöhnung zu korrigieren?
Zu spät ist es nie, es wird nur schwieriger. Ein Austausch mit anderen Eltern macht Sinn. Und wenn der Leidensdruck gross ist: Hilfe holen, etwa mit einer Elternberatung. Dafür muss man sich nicht schämen. Ich war neulich beim Zahnarzt, und es wäre mir auch nicht in den Sinn gekommen, das Loch selber zu flicken.
Wie erkennen Eltern, ob ihr Verhalten fürsorglich oder überfürsorglich, behütend oder überbehütend ist?
Eltern können etwas über die kindliche Entwicklung lernen, sich darüber informieren, was sie von ihrem Kind ungefähr erwarten können. In Workshops zeige ich jeweils Tabellen, in welchem Alter Kinder wo im Haushalt mithelfen können. Eltern reagieren dann oft ganz erstaunt. «Aha, mein Kind könnte schon das Geschirr abräumen oder die Kleider in den Wäschesack legen.» Als gute Mutter wird in der Gesellschaft angesehen, wer auf der Seite des Kindes ist. Ich sage: Eine gute Mutter ist nicht auf, sondern an der Seite des Kindes. Das ist ein grosser Unterschied.
Das müssen Sie erklären.
Ein Beispiel: Das Kind erzählt, dass es in der Schule auf den nächsten Tag unmöglich viele Rechenaufgaben erledigen soll. Wenn eine Mutter auf der Seite des Kindes ist, wird die Mutter der Lehrerin anrufen und sie fragen: «Frau A, das ist doch viel zu viel!?» Das Kind lernt: Ich habe recht. Ist die Mutter aber an der Seite des Kindes, fragt sie die Lehrerin: «Mein Kind hat erzählt …, kann das sein?» Antwortet diese, dass es sich um einen Wochenplan handle, dass die Rechenaufgaben erst bis Freitag gemacht sein müssten, fühlt sich das Kind zwar ernst genommen, aber es lernt auch: Die «Wahrheit» ist meistens komplex.
Lassen Sie uns ein weiteres Beispiel machen: Ein Zehnjähriger wünscht sich von ganzem Herzen einen kleinen Hund. Wie finden nun Eltern heraus, ob sie ihm diesen Wunsch erfüllen sollen?
Es ist grundsätzlich toll, dass das Kind den Anstoss zum Gespräch gibt. Nun sollten Eltern nachfragen und bei dieser Gelegenheit auch erklären, was es bedeutet, einen Hund zu haben. Dass man jeden Tag mit dem Hund rausmuss, auch wenn es schneit oder regnet, dass das auch mühsam sein kann. Das Kind soll sich ernst genommen fühlen, selbst wenn man den Hund am Ende nicht kauft.
Eltern stellten mir in meiner Praxis übrigens einmal genau dieselbe Frage. Ich riet, das Ganze erst einmal setzen zu lassen – das Thema also weder abzuwürgen noch den Hund gleich zu kaufen. Wissen Sie, was passierte? Der Hund war kein Thema mehr, und als die Eltern nachfragten, sagte der Sohn: «Ich brauche keinen Hund mehr, ich habe jetzt eine Freundin.»