Remo Largo: «Was wir in der Schweiz an Bindungszeit haben, ist ein Skandal!»
Seine Bücher sind Standardwerke für Eltern und seine Studien zählen zu den wichtigsten im Bereich der kindlichen Entwicklungsforschung. An unserem Talk im Kulturpark hat Remo Largo über das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen gesprochen – und wurde dabei ziemlich politisch.
Beziehungen liegen Remo Largo am Herzen, sie sind für ihn Grundstein einer gelungenen Eltern-Kind-Bindung, und auch in der Schule gehen für Largo die Lernmotivation und der Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen auf die Beziehung, die Bindung zwischen Lehrperson und Schüler oder Schülerin zurück.
Am Montag, 18. März 2019, ging Remo Largo eine Beziehung mit dem Publikum des Talks im Kulturpark ein. Immer wieder fragte er die Leserschaft des Elternmagazins Fritz+Fränzi nach ihren Erfahrungen und ging auf die Fragen aus dem Publikum und der Community via Facebook ein.
Im Video können Sie die rund 100-minütige Aufnahme der Veranstaltung nachschauen. Der Talk war gegliedert in die Blöcke: Was verstehen wir unter dem Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen und wie entwickelt sich dieses in den Phasen der Babyjahre, Schuljahre und in der Pubertät.
Die wichtigsten Aussagen von Remo Largo finden Sie im Text unten zusammengefasst.
Wie geschieht die Bindung zwischen Kind und Bezugsperson(en)?
Jedes Kind will sich angenommen und geborgen fühlen. Eine Bindung zu ausgewählten Bezugspersonen aufzubauen, ist also ein tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis. Auch in der Natur ist ein starkes Bindungsverhalten überall zu beobachten. Je mehr wir uns an die Individualität eines Kindes anpassen, desto wohler fühlt es sich. Mit der Pubertät hört diese Bindung auf, das Kind löst sich ab und wird für die Eltern «schwer kontrollierbar».
Wie gut eine Bindung ist, ist eine reine Zeitsache, so Remo Largo weiter. Und: «Was wir in der Schweiz an Bindungszeit haben, ist ein Skandal!» Genügend Zeit hiesse beispielsweise in Bezug auf den Vater, dass er nach einer gewissen Zeit sein Baby alleine versorgen, es füttern, beruhigen und zum Schlafen bringen kann. Doch in Bezug auf eine sinnvolle Bindungszeit sei die Schweiz ein «Entwicklungsland».
Bindung in den Babyjahren
In den ersten Lebensjahren wird mit der Bindung der Grundstein gelegt für eine spätere gute Beziehung. Kinder brauchen zudem andere Kinder, damit sie sich normal entwickeln können. Hier kommt die nächste Forderung von Remo Largo an die Politik: Krippen sind viel zu teuer. Sie sollen ein Teil des Bildungssystems und staatlich unterstützt werden. Wichtig sind auch die Eltern oder andere Bezugspersonen als Vorbilder. Remo Largo zitiert Karl Valentin: «Wir können Kinder nicht erziehen, die machen uns eh alles nach.»
Was ist wichtig in der Schule?
Auch in der Schule ist eine gute Beziehung das wichtigste. Je besser die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer ist, desto besser ist auch das Kind in der Schule. Zum aktuellen Bewertungssystem hat Remo Largo eine klare Meinung: diese Bewertung braucht es nicht. Lernen Kinder viel auswendig, kriegen sie gute Noten, klüger werden sie deswegen nicht. Wenn eine Lehrperson die Schülerinnen und Schüler gut kennt und eine gute Beziehung hat zu ihnen, dann weiss sie, wo das Kind steht, da braucht es keine Noten mehr.
Wichtig in der Schule ist auch die Selbstbestimmung. Jedes Kind, egal welchen Alters, möchte so selbstbestimmt wie möglich leben. Im (Schul-)Alltag sind Kinder oftmals zu sehr fremdbestimmt.
Was passiert mit der Eltern-Kind-Bindung in der Pubertät?
In der Pubertät beginnt die Zeit des Loslassens. Im Tierreich werden die Jungtiere teils weggeschubst, bei Menschen geschieht es möglicherweise anders herum. Es gibt eine Zäsur, die Bindung wird gelöst. Eltern spüren einen Kontrollverlust, Kinder stellen sich oft bewusst gegen die Eltern. Als Eltern kann man ab der Pubertät nur noch Vorbild sein, «der Job ist gemacht».