Erziehen ohne Machtspiel
Kindern Verantwortung zu übertragen heisst nicht, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen. Erziehungsexperte Jesper Juul zeigt an konkreten Beispielen auf, wie man seinem Kind Raum gibt, ohne Macht auszuüben.
Das Wichtigste zum Thema
«Die Verantwortung für sein Leben trägt jeder für sich selber und niemand sonst», sagt Jesper Juul.
Anstatt ihre Kinder ernst zu nehmen, üben viele Eltern vor allem Macht aus.
Kindern Verantwortung zu übergeben heisst für den Erziehungsexperten, ihnen Raum zu geben. Das bedeutet allerdings nicht, dem Kind jeden Wunsch zu erfüllen.
Juul nennt ein Beispiel aus seiner Jugend: Als er mit 13 oder 14 Jahren anfing, auszugehen, sagte ihm seine Mutter: «Komm nicht zu spät nach Hause!» Sie liess ihm also den Raum, zu entscheiden, wann es für ihn «zu spät» war, sie sagte nicht: «Um 22 Uhr musst du zurück sein!»
Erfahren Sie im vollständigen Artikel weitere konkrete Beispiele, wie Eltern meist unbewusst Macht ausüben und wie Sie Ihr Kind wirklich ernst nehmen.
Vom Gehorsam zum Verantwortungsbewusstsein – das ist in gewisser Hinsicht ein pädagogischer Paradigmenwechsel. Nur: Wie soll das konkret im Familienalltag realisiert werden? Respekt, Eigenverantwortung, das klingt wunderbar, aber wie sieht’s in der Praxis damit aus?
Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich den Unterschied zwischen Verantwortung und Macht etwas näher beleuchten. Wenn wir über die Tatsache sprechen, dass Kinder bis zu einem gewissen Grad fähig sind, Verantwortung für ihre eigene Person zu übernehmen, dann denken Eltern sofort, das kann nie und nimmer hinhauen. Und warum denken sie das?
Weil für sie der Satz: «Ich muss die Verantwortung tragen» gleichbedeutend ist mit dem Satz: «Ich habe die Macht inne. Ich bin ermächtigt.» Aber: Es ist eine reale Herausforderung, aber gleichzeitig eine äusserst philosophische Angelegenheit, dass jeder von uns für sein eigenes Leben verantwortlich ist – für unsere Emotionen, unsere Gedanken, für unser Sein.
Denn es ist erschreckend: In dem Augenblick, in dem du Verantwortung übernimmst, wirst du mit deiner elementaren Einsamkeit konfrontiert. Ich kann niemanden für mein Leben so, wie ich es lebe, beschuldigen – ich kann mich zwar auf meine Kindheit beziehen und sagen, dies oder jenes hat mich sehr beeinflusst, aber ich weiss, ich kann mich damit nicht herausreden – die Verantwortung für mein Leben trage ich alleine und niemand sonst!
Will ich verantwortlich sein für mein Leben oder will ich ein Opfer sein?
Die persönliche Verantwortung ist nicht etwas, was man dem Kind manchmal einräumt und manchmal nicht. Entweder hat es sie oder es hat sie nicht!
Kinder sprechen nicht in philosophisch-existenziellen Begriffen, sie sprechen in sozialpolitischen Begriffen – sie werden dir also sagen: «Warum entscheidest du, wann ich ins Bett gehe? Ich möchte es bestimmen!» Oder: «Wann bin ich alt genug, um das selbst zu entscheiden?!» Der Fehlschluss von Eltern ist nun, zu meinen, wenn sie dem Kind mehr Verantwortung zusprechen würden, dann würden sie ihm mehr Macht einräumen, was dann hiesse, sie hätten ab sofort weniger.
Kindern Raum geben
So wie diese Mutter denken die meisten Menschen über die Verantwortung nach. Aber die persönliche Verantwortung ist nicht etwas, was man dem Kind manchmal einräumt und manchmal nicht.
Wenn du nicht bereit bist, dein Kind ernst zu nehmen, erwarte auch nicht, dass es dich ernst nimmt.
Ich durfte für mein «spät» die Verantwortung übernehmen. In dem Beispiel mit dem Jungen, der nicht schlafen gehen wollte, haben die Eltern Verantwortung wie Macht behandelt. Und sie haben gemeint, wenn sie ihrem Sohn ab und zu etwas mehr Macht einräumen, könne man ihnen nichts mehr vorwerfen. Hätten sie ihn als verantwortliche Person anerkannt, dann wären sie auch frei gewesen zu sagen, was sie persönlich davon halten, dass er so spät ins Bett geht: «Ich meine, du bleibst zu lange auf. Du solltest vor Mitternacht ins Bett gehen.»
Es geht nicht um ein Machtspiel
Es heisst nur, wenn sie sagen: «Ich möchte diese Schuhe!», dass du das ernst nimmst. Und es kann vielleicht tatsächlich so sein, dass du sie ihm nicht kaufst und ihm sagst: «Ich sehe, dass dir diese Schuhe gefallen, aber sie sind für uns einfach zu teuer! Du musst dir andere suchen.» Es geht hier also nicht um ein Machtspiel – um die Frage: Wer hat die Macht? –, sondern darum, auf den anderen einzugehen und ihn ernst zu nehmen.
Ich kann niemanden für mein Leben, so wie ich es lebe, beschuldigen. Die Verantwortung trage alleine ich.
Wenn sich beide einig sind, dass das Wichtigste ist, zusammen irgendwohin zu fahren, dann können sie miteinander offen darüber sprechen, müssen ihre Wünsche nicht unterdrücken und finden dann auch gewiss eine Lösung. Für die Generation meiner Eltern war zum Beispiel dies, dass man zusammen in den Urlaub fährt, ein Muss. Heute geschieht es freiwillig, wenn beide wollen – ja, aber sie müssen nicht!
Dieser Text stammt aus dem Buch «Wir sind für dich da. 10 Tipps für authentische Eltern» von Jesper Juul. Erschienen 2005 im Kreuz Verlag. Das Buch ist vergriffen.