Kriminologe Dirk Baier hat für eine Studie mehr als 8000 Schülerinnen und Schüler in der Schweiz zu Gewalt in der Erziehung befragt – und kam zu beunruhigenden Erkenntnissen.
Zum einen: Gewalt gilt hier noch immer als normaler Bestandteil der Erziehung. Nur einer von drei Jugendlichen gab an, dass er als Kind in der Familie keine Form von Gewalt erlebt habe. In Deutschland sagten dies in einer vergleichbaren Untersuchung zwei von drei Jugendlichen. Der zweite überraschende Befund: Die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund sind enorm: Es gibt Gruppen, die eine vier- bis fünfmal so hohe innerfamiliäre Gewaltquote aufweisen.
Erst einmal: Wir haben auch positive Formen von Erziehung untersucht, das Mass an Zuwendung zum Beispiel, d.h. die elterliche Bereitschaft zu trösten. Hier ist die Schweiz genauso gut aufgestellt wie Deutschland. Aber es hat sich gezeigt, dass in der Schweizer Erziehungskultur häufiger auf leichte Formen der Gewalt wie Ohrfeigen zurückgegriffen wird. Man muss aber festhalten, dass es auch in Deutschland viele Familien gibt, die prügeln. Und dass es in der Schweiz viele Familien gibt, die nicht auf Gewalt setzen. Eine abschliessende Antwort haben wir noch nicht. Eine Rolle mag spielen, dass in Deutschland – im Gegensatz zur Schweiz – seit dem Jahr 2000 die elterliche Züchtigung verboten ist.
Ja. Dem stimmen natürlich nicht alle zu – aber nach wie vor ein grosser Teil der Bevölkerung.
Eine Ohrfeige geht nicht spurlos an an einem Kind vorüber. Damit wird ein Vertrauensverhältnis zerstört: Das Vertrauen in die Eltern, aber auch in die Welt als sicherer Ort.
Natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Kind regelmässig oder selten geschlagen wird und ob es sich um Züchtigungen oder schwere Gewalt handelt. Hat das Kind schwere Gewalt erlebt, ist es zum Beispiel wahrscheinlicher, dass es später selbst gewalttätig wird. Aber auch zwischen den Vergleichsgruppen «Keine Gewalt erlebt» und «Züchtigungen erlebt» – eben die berühmte Ohrfeige – sehen wir deutliche Unterschiede. Die Forschung zeigt klar: Jede Form von körperlicher Gewalt richtet Schaden an.
Ja, am meisten Jugendliche gaben an, Ohrfeigen erhalten zu haben. Relativ viele gaben an, «hart angepackt» oder «gestossen» worden zu sein. Am seltensten kommt schwere Gewalt vor wie Verprügeln oder Schlagen mit Gegenständen.
Die kulturelle Vielfalt ist etwas, das die moderne Gesellschaft definiert. Und ich glaube, dass Erkenntnisse in diesem Bereich helfen können, Probleme anzugehen.
Schwere Gewalt als Teil der Erziehung ist bei Jugendlichen aus dem südostasiatischen, dem südosteuropäischen und dem afrikanischen Raum deutlich häufiger. Ich erkläre mir das im Wesentlichen mit unterschiedlichen Auffassungen, wie Erziehung aussehen soll. Es handelt sich um Kulturen, in denen patriarchale Familienstrukturen noch häufiger sind.
Der Mann ist das Oberhaupt der Familie, der sich auch mit Gewalt durchsetzt. Nicht, weil er Spass am Prügeln hat, sondern weil ihm alternative Sanktionsmöglichkeiten fehlen, um dem Kind zu zeigen, dass etwas nicht in Ordnung war. Diese Vorstellungen bestehen seit Jahrhunderten. Und sie sind falsch: Einsicht kann man nicht einprügeln.